Die Tränen des Herren (German Edition)
nicht sicher war?
Ein Windstoß blähte die blaugoldenen Vorhänge, als sich die Tür öffnete.
König Philipp trat dem Besucher entgegen. Es war sein Beichtvater Guillaume Imbert.
„Du hast mich rufen lassen, mein Sohn?“
„Die Gerüchte über Papst Bonifatius dürfen nicht länger geduldet werden. Sie schaden dem Ansehen der Heiligen Kirche“, erklärte Philipp.
Guillaume Imbert nickte. Seit dem vergangenen Jahr waren die Anklagen gegen Clemens‘ Amtsvorgänger wieder aufgeflammt. Bonifatius VIII. habe sich den Papstthron mit Bestechung und Gewalt erobert, er sei ein Häretiker und Sodomit. Was der Inquisitor nicht wusste, war der Anteil König Philipps und seines Siegelbewahrers an diesen Gerüchten. Nachdem die päpstliche Kommission mit solcher Hartnäckigkeit die Verteidiger des Tempels einforderte, hatte Seine Majestät beschlossen, das schon fast erkaltete Eisen des Bonifatiusprozesses erneut ins Feuer zu schieben.
„Seine Heiligkeit Clemens muss...“
Von den Gassen der Stadt herauf klingender Lärm unterbrach König Philipp. „Was ist da los?“
„Die ersten Zeugen der Großen Kommission“, antwortete Guillaume Imbert, der den Zug bereits auf seinem Weg in den Tempel gesehen hatte.
Philipp öffnete das Fenster und blickte hinaus. Ritter, Söldner, Dienstleute und Knappen sammelten sich auf den Mauern und am Tor der Festung, um jene Männer zu sehen, die einst als tapferste Kämpfer der Christenheit gegolten hatten. Die Templer gingen in zwei Reihen, aneinandergekettet und eskortiert von einer Söldnertruppe zu Pferde. Ein beschwerlicher wochenlanger Marsch lag hinter ihnen. Einige hatten die an Steinen und Eis blutig gerissenen Füße mit Lappen umwickelt.
Ein paar Leute bewarfen die Gefangenen mit Dreck, andere sangen Spottlieder. Ab und zu stießen die Söldner einen besonders frechen Straßenjungen zurück. Sie hatten genug von der Eskorte dieses angeblichen Häretikergesindels, das den ganzen Weg über Gebete gesprochen hatte. Der Teufel sollte sie holen, wenn sie noch einmal solch einen Auftrag erledigten! Vor St. Germain-des-Près hielt der Zug. Während der Söldnerkommandant mit dem Klosterpförtner sprach, näherte sich eine alte Frau mit einem Wasserkrug den Gefangenen. Eine bittende Hand streckte sich ihr entgegen, und sie reichte dem Ordensbruder zu trinken. Wütend schlug ihr der zunächst stehende Söldner das Gefäß aus der Hand.
Von den Färbertrögen im Hof waberten beißende Schwaden in die Kammer. Aber es störte Raimond längst nicht mehr. Seine Lumpen, ja er selbst stanken genauso. Er wusste nicht mehr, wie lang er schon in der Gemeinschaft der Färber arbeitete. Stunde um Stunde, Tag um Tag, Woche um Woche reihten sich aneinander. Zuerst hatte er versucht, bei seiner Familie Zuflucht zu finden. Doch seinem älteren Bruder, der unterdessen das Erbe angetreten hatte, war es ratsamer erschienen, ihn mit den Hunden davonjagen zu lassen. Dann, vor ein paar Monaten, hatte Raimond die Arbeit bei den Färbern in Paris gefunden. Sie hatten nicht viel wissen wollen über sein Woher und Wohin. So war er bei ihnen geblieben.
Raimond erhob sich von seinem Strohsack und trat vor die Tür. Ein dürrer Hund schlich vorbei, nebenan schüttete ein Alter Abwasser aus dem Fenster. Ein Menschenauflauf vorne an der Straße zog seine Aufmerksamkeit jetzt auf sich. Die Leute johlten und brüllten. Wieder einmal ein Verurteilter, der zum Galgen geschleppt wurde, vielleicht?
Er zerrte den Strick um seinen Hosenbund fester und setzte sich in Bewegung. Wenig später hatte er sich an einer Hausecke nach vorn gedrängt und konnte in Augenschein nehmen, was den Andrang verursacht hatte…
Seine Augen folgten den Templern, bis sie durch das Tor verschwunden waren. „Die Verteidiger”, dachte er. „Heilige Mutter Gottes, wie lange haben wir darum gekämpft!”
Da traf Raimond ein Knuff in die Seite. „Komm’ mir nicht so nah, du stinkende Ratte!” schimpfte ein Mann. ‘Wir’ hatte er gedacht! ‘Wir’! Nein, er gehörte nicht mehr zu den Templern! Er war nichts als ein stinkender Lumpenhaufen! Plötzlich ekelte er sich vor sich selbst.
----
Ein Netz von Schächten und Gängen durchzog Paris unterhalb der Straßen und Häuser. Die Katakomben waren ein übel beleumdeter Ort. Doch für den Mann, der gerade in einem der Kellerlöcher an der Seine verschwand, barg die obere Welt weitaus mehr Gefahren. Mit der Sicherheit eines Menschen, dem die Dunkelheit vertraut ist, tastete er
Weitere Kostenlose Bücher