Die Traenen des Mangrovenbaums
Schwefelgeruch in der Luft erinnerte an den bösartigen Vulkan, der vor der Küste von Sumatra Feuer und Asche gespuckt hatte. Mit der kühlen Dämmerung erwachte das gesellschaftliche Leben in Anjer. Während die Kutsche gemächlich die Hauptstraße entlangrollte, beobachtete Anna Lisa das Gewimmel von Europäern mit Sonnenschirmen, Tropenhelmen und kakifarbenen Strohhüten, die hier promenierten, gelegentlich in kleinen Gruppen zu einem Schwätzchen stehen blieben oder die Angebote in einem der Schaufenster bewunderten. Sie waren alle gut gekleidet, die meisten Männer trugen Reitanzüge, die Frauen waren ordentlich herausgeputzt, wenn auch in einem provinziellen Stil, der in Hamburg ein spöttisches Lächeln bewirkt hätte. Hübsch angezogene und frisierte Kinder liefen hin und her, spielten mit Murmeln, trieben hölzerne Reifen den Gehsteig entlang oder warfen sich Bälle zu. Ein paar größere Jungen unterhielten sich damit, bunt bemalte Kreisel mit dem Schlag einer Peitschenschnur in wirbelnde Bewegung zu versetzen. Eine fröhliche, entspannte Stimmung herrschte, wie man sie in Hamburg selten erlebte. Alle die Mijnheers und Mevrouws hier schienen sehr zufrieden mit sich und ihrem Leben zu sein, ebenso die Chinesen und Javaner, von denen man hier ziemlich viele sah – die meisten Fischer und die kleinen Händler in den Küstenstädten gehörten diesen Rassen an.
Verwirrt von all den neuen Eindrücken blickte die junge Frau auf die gepflasterten Uferpromenaden unter schattigen Tamarinden, den lebhaften Verkehr von Kutschen und Reitern, Büffelkarren und Leiterwagen. Hühner, Schweine und Ziegen liefen den Leuten vor die Füße und wurden mit Schreien und Stockschlägen davongejagt.
Die beiden Pferde trabten durch die Hauptgeschäftsstraße, hinter deren hohen, Kirchenfenstern ähnlichen Schaufenstern sich das Feinste an Waren türmte, das die örtlichen Kaufleute anzubieten hatten. Dann folgte die Villenstraße, in der die einheimischen Verwaltungsbeamten und Kaufleute wohnten. Diese reichen Javaner trieben im Unterschied zu der einfachen Lebensart der niederen Stände großen Luxus und liebten Pracht und Aufwand. Sie hatten mehr als alle anderen dazu beigetragen, Anjer zu einer Perle unter den Küstenstädten zu machen. Noch ein Stück weiter wohnten die Reichsten unter den Kolonialherren im Luxus der herrschaftlichen Villen, die durch Flächen tiefgrünen Urwalds voneinander getrennt wurden. Zwischen den hohen Palmen und zottigen Banyan-Bäumen öffnete sich der Blick auf europäische Villen, die inmitten breiter, gepflegter Rasenflächen lagen. Sie waren niedrig, ein-, höchstens zweistöckig, dabei sehr geräumig, um eine gute Durchlüftung zu sichern, und hatten durchwegs steile Dächer und schöne Veranden. Unter ihnen stach eine weiße Villa deutlich hervor, die man ihnen als das Haus des Bürgermeisters bezeichnete. Sie protzte mit einer bronzenen Kanone inmitten eines herrlichen Rasens und einem eigenen Anlegesteg für die makellos gepflegte Barkasse der höchsten Autorität des Städtchens.
Als der Kutscher sein Gespann zum Hafen hinunterlenkte, sahen sie abseits des großen Beckens, in dem jetzt auch die Anne-Kathrin ankerte, kleine geschützte Buchten. In diesen waren auf dem Wasser schwimmende Siedlungen entstanden, bestehend aus Sampans, kleinen Booten mit keilförmigem Rumpf, flachem Boden und von runden Dächern beschatteten Schutzräumen auf dem Deck. Auf diesen Wohnbooten, erklärte ihnen ihr Kutscher, lebten die Fischer wie in Häusern. Landeinwärts, wo die Hänge treppenförmig anstiegen, drängten sich Grüppchen bunter Häuser zusammen, schmal und hoch, mit steilen, wie Kähne geformten Dächern; sie standen auf Pfosten, damit die schweren Wassergüsse der Regenzeit abrinnen konnten, ohne dem Haus selbst Schaden zu tun. Es waren Kampongs, die Siedlungen einheimischer Reisbauern, deren Felder sich auf diesen leuchtend grünen Treppen entlangzogen.
Eine Rundfahrt durch Anjer, stellte Anna Lisa fest, war kein sehr aufwendiges Unternehmen. Es gab die Hauptstraße mit ihren Geschäften und einem Marktplatz, es gab die Uferpromenade und den Hafen, und damit hatte es sich eigentlich auch schon. Nach knapp zwei Stunden wurden die beiden Frauen wieder im Hotel Schuit abgeliefert.
Die junge Frau wäre froh gewesen, hätte sie sich wie auf dem Schiff in ihr Boudoir zurückziehen können, wenn ihr Gatte in einer seiner üblen Launen feststeckte wie ein Karren im Schlamm, aber hier gab es nun
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