Die Träume der Libussa (German Edition)
aufgerissenen Augen in ihre Arme. Lidomir hielt vorsichtig Abstand.
Sein Blick war aufmerksam und abwartend angesichts einer unsicheren Welt. Er
hatte Premysls braunes Haar und hohe Wangenknochen geerbt, ebenso wie die
klugen Augen, die ihn älter wirken ließen als seine acht Jahre. Durch seinen
frühreifen Verstand und seine Ernsthaftigkeit wirkte er fast noch
schutzbedürfiger als Scharka, die es immerhin verstand, die Herzen der Menschen
für sich zu gewinnen. Doch Lidomir schien schwierig und zurückhaltend, nicht
unbedingt ein Kind, das jeder gleich in die Arme schließen wollte. Kveta mit
ihrem schlichten, liebenswürdigen Gemüt wäre nicht in der Lage, auf ein so
grüblerisches Kind wie ihn angemessen einzugehen. Er brauchte Premysl, doch der
war tot. Er hatte niemanden mehr außer seiner Mutter.
Noch einen kurzen
Augenblick bäumte sich der Wunsch nach Erlösung in Libussa auf. Dann fügte sie
sich in ein Leben, das nicht von ihr lassen wollte. „Bringt mir etwas zu
essen", flüsterte sie und schloss Scharka in die Arme. Lidomir strich nur
zögernd über ihre Schulter, aber seine Augen strahlten vor Glück. Anders als
seine Schwester hatte er wohl begriffen, wie nahe die Mutter dem Tod gewesen
war. Kveta erfüllte Libussas Wunsch mit einem freudigen Lächeln. Gemeinsam mit
Kazi kehrte sie zurück und brachte die übliche Brühe, diesmal mit einigen
Stücken Brot darin. Libussa staunte, denn erstmals seit vielen Tagen löste der
Anblick eines vollen Tellers hungriges Magenknurren bei ihr aus.
„Iss,
Herrin", murmelte Kveta. „Du bist die Mutter deines Landes und ohne dich
sind wir verloren.“
„Radka hätte es
auch nicht schlecht gemacht. Sie ist in ihrer Art fast wie Thetka“, erwiderte
Libussa trotzig, doch dann fiel ihr ein, dass keine der beiden Frauen so
entschieden gegen Kroks unseligen Plan gewesen war wie sie selbst. „Hast du Neuigkeiten,
was Radka in Zatec plant?“, fragte sie Kazi.
„Sie hat die
Frauen der fürstlichen Clans um sich versammelt, außerdem kräftige Bäuerinnen
und ältere Kinder. Die üben jetzt den Umgang mit Waffen. Ein paar Krieger sind
geblieben, um die Festungen zu bewachen, aber viele sind es nicht. Radka
fürchtet, dass ein anderes Volk uns überfallen wird, sobald es von unserer
wehrlosen Lage erfährt.“
Libussa zwang
sich, ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Gegenwart zu richten und der vertrauten
Welt ihrer Träume zu entfliehen. „Ich werde nach Zatec reisen, sobald ich
wieder bei Kräften bin“, beschloss sie. „Und du, Kazi, musst inzwischen hier
nach dem Rechten sehen. Du hast einen scharfen Verstand. Jetzt solltest du ihn
auch für andere Dinge einsetzen als die Heilkunst. Wir brauchen jede Hilfe.“
Ihre älteste
Schwester nickte mit unzufriedener Miene.
Radkas erschöpftes Gesicht
strahlte vor Freude, als sie Libussa empfing. „Es gab Gerüchte, dass es dir
sehr schlecht geht. Nachdem du bei der Quelle wieder zu dir kamst, warst du
völlig verwirrt, und mir schien, diese Magie hätte deinem Verstand dauerhaft
geschadet.“
Libussa
widersprach nicht. Radka ähnelte ihrer Mutter, die den Dienst an den Göttern
für nötige, aber lästige Zeitverschwendung gehalten hatte.
„Ich bin wieder
in der Lage, mich meinen Aufgaben zu widmen", meinte sie nur. „Ich habe
gehört, du hast die anderen Fürstinnen hier versammelt.“
Radka nickte.
„Sie sind nicht unbedingt alle eine Hilfe. Lechos Gefährtin Irina liegt mir mit
Klagen in den Ohren. Sie weigert sich, seinen Tod hinzunehmen und hofft immer
noch auf eine wundersame Rückkehr. Auch Drahomira, Hostivits junge Schwester,
jammert nur, dass sie es ohne den Bruder nicht schafft, obwohl er doch schon
längst sein Amt an sie hätte abgeben müssen, denn er sollte nur Fürst sein, bis
sie alt genug ist, ihre Rolle einzunehmen. Slavoniks Mutter ist alt und seine
Schwester Sylva nicht gerade die Hellste. Täusche ich mich oder sind unsere
Frauen früher stärker gewesen? Ist das der Einfluss all der Geschichten über
Männerherrschaft bei anderen Völkern?“
Libussa zuckte
mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hat es schon immer starke
und schwache Fürstinnen gegeben. Nicht alle Söhne unserer Clans waren mutig.
Doch manchmal scheint mir, dass einige unserer Männer, Slavonik zum Beispiel
oder auch Hostivit, die Sitten bei uns zu ihrem Vorteil ändern wollten und
daher versucht haben, die Mädchen der fürstlichen Clans dementsprechend zu
beeinflussen, solange sie noch klein
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