Die Träume der Libussa (German Edition)
kämpften sie
sich gemeinsam durch jeden Tag. Libussa überlegte, ob sie ihre Kinder nicht
nach Zatec schicken sollte, wo sie in der Kunst des Kämpfens ausgebildet
würden. Krok war nicht mehr zur Stelle, um diese Aufgabe zu übernehmen. Aber
die Vorstellung, sich von ihnen zu trennen, war ihr im Augenblick unerträglich.
Später, in ein paar Jahren, würde sie zumindest Lidomir fortschicken müssen,
damit er die richtige Ausbildung erhielt, um eines Tages Kroks Platz als
Stammesführer einnehmen zu können.
Vojen und
Tschwastawa trafen ein, begleitet von jener schwarzen Frau, die ihnen als
Kindsmagd diente. Sie schien keinen Groll zu hegen, dass Kazi ihre Tochter als
eigenes Kind ausgab. Ihr Gesicht verriet nichts, außer dem Willen, sich in ihr
Schicksal zu fügen. Vojen schenkte sie mehr Aufmerksamkeit, als seine leibliche
Mutter es tat. Aber die Frau sprach nicht, obwohl Kazi meinte, sie könne
mittlerweile jedes Wort verstehen, das man zu ihr sagte.
„Sie selbst
redet jedoch nur in ihrer eigenen Sprache, und zwar nachts, wenn sie schläft.
Tagsüber ist sie stumm.“
„Was meinst du,
woran das liegt?“, fragte Libussa. Sie hatte sich darangemacht, ein Hemd für
Vojen zu nähen. Ruhig zog sie die Nadel aus Horn durch den Stoff und überlegte
sich ein Muster für die Stickerei. Es hatte ihr stets Freude gemacht, Kleidung
anzufertigen, auch wenn ihr Kopf jetzt rasch zu schmerzen begann, sobald sie
ihre Augen anstrengte. Jene Kleider, die sie vor Kroks Kriegszug fertig
gestellt hatte, lagen in einer ihrer Truhen. Bisher hatte sie sich geweigert,
diese zu öffnen, denn sie enthielten zu viele Erinnerungen: Mnatas
orangefarbene Tunika, Premysls wollenen Umhang und jene Bastschuhe, wegen derer
sie sich einst gestritten hatten. Auch das Seidenkleid verbannte sie aus ihrem
Bewusstsein. Manchmal würde Libussa den Inhalt dieser Truhen am liebsten
einfach in ein Feuer werfen. Aber sie ahnte, dass es ihr eines Tages vielleicht
Trost bringen würde, jene Dinge in die Hand zu nehmen und an die geliebten
Menschen zu denken, die aus ihrem Leben verschwunden waren.
Sie bemerkte
erst nach einer Weile, dass ihre Frage Kazi nachdenklich gemacht hatte.
„Ich glaube,
das Leben hat dieser Frau übel mitgespielt", sagte sie schließlich.
„Andere Heiler haben mir schon davon erzählt, dass Menschen nach schrecklichen
Erlebnissen die Sprache verlieren. Woran das liegen mag, weiß niemand so genau.
Diese Frau ist es gewöhnt, zu leiden. Mir ist schon bald aufgefallen, wie sie
sich immer wieder vor Schmerzen krümmt, und ich habe sie untersucht. Ihr Körper
ist ... er ist an einer Stelle verstümmelt. Das muss jemand absichtlich getan
haben.“
Kazi schien
unwillig, die Art der Verletzung näher zu beschreiben. Erst als Libussa
nachfragte, erfuhr sie Einzelheiten und presste unbewusst ihre Schenkel
zusammen, wie um ihren eigenen Körper zu schützen.
„Warum tut
jemand so etwas?“, fragte sie entsetzt.
„Woher soll ich
das wissen?“, erwiderte Kazi. „Mir scheint es eine Art Ritual, so wie die
Tätowierungen unserer Krieger. Oder vielleicht auch die Idee eines Verrückten.
Wer kann schon sagen, was den Menschen in weit entfernten Teilen dieser Welt so
alles einfällt? Jedenfalls scheint mir diese seltsame Frau vom Leben gebrochen.
Sie hat zu viel Kummer und Schmerz erlebt, um noch die Kraft zu einem eigenen
Willen zu haben. Deshalb sieht sie vielleicht gar keinen Sinn darin, sich Mühe
mit dem Sprechen zu geben.“
Libussa war
betroffen, wie gut sie nach Kazis Erklärung das Verhalten dieser Fremden
plötzlich verstand. Noch vor ein paar Monaten wäre ihr unbegreiflich gewesen,
dass jemand die Kraft zum Handeln verlieren konnte.
„Wie kommt
Tschastawa damit zurecht, zwei Mütter zu haben?“, fragte sie, um sich von ihrer
eigenen Trübsal abzulenken. Zwischen Kazis Brauen erschien eine tiefe Furche.
„Meine Tochter
hat nur eine Mutter. Das bin ich", erklärte sie entschieden. Früher einmal
hätte diese Aussage Libussa wütend gemacht, doch nun fühlte sie sich zu
zermürbt für heftige Gefühle. Sie wollte Kazi gerade an die dunkle Hautfarbe
des kleinen Mädchens erinnern, die es auf Dauer unmöglich machen würde, so eine
Lüge aufrecht zu erhalten, als Kveta plötzlich ins Zimmer trat. Ihr Gesicht war
schneeweiß.
„Herrin, es
sind Männer unten am Tor. Ein paar fremder Krieger und ... und ... es ist noch
jemand dabei.“
„Wie viele
Krieger?“ Libussa stand auf und spürte, dass ihre Beine
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