Die Träume der Libussa (German Edition)
Tage plagen, aber mit der Zeit ließ jeder
Schmerz nach. Es war ihr eigener Fehler gewesen, sich dumme Hoffnungen zu
machen.
„Radegund, so
warte doch!“ Jetzt klang es eindringlich.
„Es missfällt
mir selbst, dass ich schon fort muss. Der heutige Tag war nicht günstig, aber
ich wollte dich nach dem Tanz möglichst schnell wiedersehen. Morgen, da … da
bespricht sich Vater Anselm allein mit dem Bischof und ich … ich … kann gehen,
wohin ich will.“
„Na gut. Und wo
treffen wir uns morgen?“
Die Worte waren
ihr wie von selbst entwichen, doch das freudige Leuchten in Lidomirs Augen
machte ihr klar, dass sie kein Fehler gewesen waren.
Es war Winter geworden. Radegund
half ihrer Stiefmutter, die Fensteröffnungen des Hauses mit gegerbten
Tierfellen abzudecken. Ihr Vater litt unter einer schweren Erkältung, die ihn
auf sein Lager fesselte, wie immer, wenn die kalte Jahreszeit anbrach. Sie
hatte in den letzten Monaten gelernt, Gudrun zu achten, deren Fleiß und
unermüdliche Lebenslust den ärmlichen Haushalt vor Verwahrlosung bewahrten.
Seit sie ihr dabei zur Hand ging, hatte Gudruns Nörgeln über ihre feinen
Kleider und heiklen Essgewohnheiten allmählich nachgelassen.
Selbst ihren
Stiefbruder, der nach dem gemeinsamen Vater Clothard benannt worden war, konnte
sie nun ohne Groll betrachten. Er war kräftig, blond und laut wie Gudrun. Gutes
Essen war sein hauptsächliches Bedürfnis. Das bescheidene Erbe würde ihm bis an
sein Lebensende eine gedeckte Tafel bescheren.
Radegund kehrte
den Boden und achtete darauf, dabei den Saum ihres Kleides nicht zu
beschmutzen. Es war aus Wolle gewebt, und sie hatte es mit bunten Holzperlen
bestickt, um der tristen Jahreszeit etwas Farbe zu verleihen. Den Umhang aus
Biberfell aus der Truhe ihrer Mutter würde sie dazu tragen, wenn sie sich mit
Lidomir am Fluss traf. Sie überlegte, wie sie ihr Haar frisieren sollte, damit
es auch unter der Pelzkappe noch hübsch anzusehen war, als ein Klopfen an der
Tür erklang.
„Hast du eine
Ahnung, wer das sein könnte, Radegund?“, fragte Gudrun lächelnd. Aber Radegund
wusste es nicht. Lidomir hatte es bisher vermieden, ihr Haus zu besuchen.
Vor ihr stand
jener dunkelhäutige Händler, dem Brunchild einst die blaue Seide abgekauft
hatte, und schüttelte den Schnee von seinem Mantel. Gudrun warf ihrer
Stieftochter einen besorgten Blick zu, doch Radegund hatte keine Schulden gemacht.
Sie fertigte ihre Kleidung aus den Überresten des Besitzes ihrer Mutter an oder
webte selbst.
„Darf ich mit
dir reden, Clothards Tochter?“, fragte er, nachdem Begrüßungen ausgetauscht
wurden, Gudrun ihn in die Küche geladen und einen Becher Met vor ihn
hingestellt hatte. Danach entfernte die Stiefmutter sich wortlos. Radegund
begriff die Bedeutung dieses Besuches nicht, doch es gab keinen Grund, ihm ein
Gespräch zu verweigern. Verwirrt ließ sie sich ihm gegenüber nieder.
„Mein Name ist
Konstantin und ich stamme aus Rom", begann er und blickte ihr dabei sehr
gerade in die Augen. „Ich bin Christ, obwohl man mich wegen meines Aussehens
manchmal für einen ungläubigen Sarazenen hält. Meine Reisen lassen mich weit
herumkommen, doch kein Ort der Welt vermag meine Heimat in den Schatten zu
stellen. Rom ist eine Stadt voller prächtiger Bauten, in der man die
erlesensten Waren kaufen kann. Einer Frau, die schöne Dinge liebt, würde es
dort gefallen.“
Radegund
überkam eine unklare Ahnung. Suchte der Händler eine Kebse? Sie empfand keinen
Zorn. Die Welt erschien ihr nicht mehr so hässlich wie einst, obwohl sie nicht
wusste, ob die Wirklichkeit um sie herum sich tatsächlich zum Besseren
gewandelt hatte oder sie diese einfach nur anders wahrnahm.
„Ich beobachte
dich schon lange auf dem Marktplatz“ fuhr er fort. „Immer, wenn ich in dieser
Stadt bin. Du bist zwar nicht reich, Radegund, doch kaum ein Mädchen in all den
Orten, die ich besuche, kann sich so vorteilhaft kleiden wie du. Obwohl deine
Gewänder nicht aus den edelsten Stoffen angefertigt sind, verstehst du es, die
reichen jungen Damen in den Schatten zu stellen. Diese Stickerei zum Beispiel.
Hattest du eine Vorlage dafür?“
Radegund
schüttelte ratlos den Kopf. „Sie ist mir so eingefallen, als ich sah, wie das Wasser
der Donau dahinfloss. Manchmal, bei starkem Wind, bilden sich leichte Wellen.“
Die meisten Ideen kamen ihr, wenn sie um sich herum unerwartet Schönheit
entdeckte. Ebenmäßigkeit und Anmut, wo niemand sie erwarten würde.
Der Händler
nahm
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