Die Träume der Libussa (German Edition)
Mutter
ist die Fürstin ihres Stammes und Hohe Priesterin unseres ganzen Volkes. Sie
trägt eine große Verantwortung. Bei uns gelten Frauen nicht als minderwertig
und unrein. Sie können großen Einfluss ausüben, ohne sich dafür an Männer zu
verkaufen.“
Radegund hatte
einige Geschichten über mächtige Frauen gehört, die von der Äbtissin allesamt als
bösartig und gottlos bezeichnet worden waren. Ihr selbst erschien es nur
unglaubwürdig, dass eine Frau über Männer herrschen konnte. Doch plötzlich
musste sie an eine Nonne im Kloster denken. Schwester Ludmilla. Sie hatte
Anahild und Radegund getröstet, als sie in der ersten Nacht im Schlafsaal vor
Heimweh kein Auge zutun konnten. „Dies ist ein guter Ort. Ihr werdet es bald
begreifen. Hinter diesen steinernen Mauern ist eine Frau in Sicherheit. Ich
selbst wuchs bei den Heiden auf, wo Frauen sich Rechte anmaßten, die ihnen
nicht zustehen. Gott strafte mich dafür, denn mir ist Schreckliches
widerfahren. Danach zog ich los, um meinen Vater zu suchen. Ich fand ihn nicht.
Er war ein Heide, und es gibt keine heiligen Orte der Heiden mehr. Erst mit der
Zeit begriff ich, dass dies eine gute Entwicklung war. Ich entdeckte einen
neuen Vater, dessen Liebe grenzenlos ist. Bei ihm bin ich geborgen.“
Damals hatte
Radegund diese Worte nicht ernst genommen. Sie verstand nicht, warum Gott
Ludmilla für irgendetwas hatte strafen wollen, denn sie schien zu sanftmütig,
um das Missfallen eines Mannes zu erregen, ganz gleich, wie streng er sein
mochte. Aber vielleicht hatte sie von jenem Volk gesprochen, zu dem auch
Lidomirs Mutter gehörte.
„Nehmen die
Männer es denn hin, dass eine Frau ihnen Vorschriften machen darf? Was ist mit
deinem Vater? Stört es ihn nicht, dass er nicht selbst der Herr ist, so wie bei
anderen Völkern?“
Lidomir
lächelte kopfschüttelnd. „Ich glaube, Menschen leben so, wie sie es gewohnt
sind. Meine Mutter war stets bemüht, gerecht zu sein und niemanden unnötig zu
kränken. Es gab keine Gründe, sich gegen sie aufzulehnen.“
Radegund fand,
dass dies wie ein Märchen klang. Nach ihrer Erfahrung nutzten Menschen, die
Macht hatten, diese stets zu ihrem Vorteil. Dass sie sich dabei Feinde machten,
war unvermeidlich, störte allerdings nicht, solange die Feinde machtlos
blieben.
Aber all das
war nicht wichtig. An ihrer Seite saß ein gutaussehender, liebenswürdiger Mann,
der sich freundlich mit ihr unterhielt. Sie hatte ihm mehr von ihrer keineswegs
reinen Seele offenbart als irgendeinem anderen Menschen außer Anahild. Er war
deshalb nicht fortgegangen. Es schien ihm sogar zu gefallen, mit ihr zu
plaudern. Und nichts weiter zu versuchen als nur das. Sie wünschte sich, dieser
Nachmittag würde nie zu Ende gehen, und fürchtete den ersten grauen Schimmer
der Dämmerung, die sie zwingen würde, wieder in die Stadt aufzubrechen. Wenn
dieses Treffen vorbei war, konnte sie dann tatsächlich auf ein nächstes hoffen?
Bisher hatte sie in einem Ehemann die Rettung vor dem Kloster gesehen.
Vielleicht auch die Hoffnung auf ein paar schöne Kleider und Schmuck. Doch da
war plötzlich ein innerer Drang, der sie zu diesem heidnischen Fremdling zog.
Allein seine Gegenwart, die Möglichkeit, sich ihm mitzuteilen, schien ihr
plötzlich wertvoll. Sie erschrak. Das eigene Glück von der Zuneigung anderer
Menschen abhängig zu machen, war unklug.
„Ich fürchte,
ich muss in die Stadt zurück. Die Sonne wird bald sinken. Vater Anselm wartet
zur Vesper auf mich“, kam es auch schon. Radegund fuhr zusammen. Sie musste
sich getäuscht haben, er hatte nicht gern mit ihr geplaudert, sondern suchte
einen Grund, möglichst bald wieder zu verschwinden. Sie bohrte die Fingernägel
in ihre Handflächen, um den tiefen Schmerz durch eine andere Qual zu bekämpfen.
Das nutzte allerdings nicht viel.
„Nun gut, dann
gehen wir eben.“ Sie stand auf und war bemüht, stolz und abweisend
dreinzublicken.
„Radegund?“
Sie musterte
ihn abwartend. Er schien mit Worten zu ringen. Vermutlich suchte er einen
überzeugend klingenden Grund, warum sie sich nicht mehr sehen sollten. Er
schien ein höflicher junger Mann.
„Was ist?“,
meinte sie kalt. „Wir sollten gehen, aber nicht zusammen. Ich will nicht, dass
die Leute tratschen.“
„Natürlich. Ich
verstehe.“
Warum nur
blickte er drein wie ein getretener Hund? Sie tat einen Schritt vorwärts.
Sobald sie sich weit genug von ihm entfernt hatte, wäre alles leichter. Die
Enttäuschung würde sie noch ein paar
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