Die Träume der Libussa (German Edition)
Wochen nach ihrer Trauung,
die zwar bescheiden ausfiel, aber nach Lidomirs Wunsch von Vater Anselm
vollzogen wurde, brachen Radegund und ihr Gemahl auf. Vater Anselm sorgte
dafür, dass ihnen einige Wachen des Bischofs zum Schutz mitgegeben wurden, denn
Lidomirs Leute sollten sie erst an der Grenze in Empfang nehmen. Radegund
staunte über den Schmerz, den sie plötzlich empfand, als sie von ihrem Vater,
Gudrun und dem Halbbuder Clothard endgültig Abschied nehmen sollte. Sie
versprach, ihrer Familie gelegentlich Nachrichten durch fahrende Händler zu
schicken. Gudrun lächelte und wünschte ihr Glück, was von Herzen zu kommen
schien. Ihr Vater nickte nur zustimmend.
„Kommst du uns
manchmal besuchen?“, fragte Clothard der Jüngere zu ihrem Erstaunen. Sie
umarmte den Bruder gerührt.
„Es wird nicht
einfach für sie sein. Der Weg ist weit. Mädchen verlassen irgendwann ihre
Familie, so ist es heutzutage eben“, erklärte Gudrun indessen.
So wie damals,
bei ihrer Abreise ins Kloster, blieben die Augen ihres Vaters trocken. Dieser
Umstand erleichterte es Radegund, sich auf ihr Pferd zu schwingen. Sie musste
in die Zukunft blicken und hoffen, darin mehr Glück zu finden als in jenem
Leben, das sie nun hinter sich ließ.
Dann verschlang
sie der dichte Wald. Die Pferde liefen unermüdlich einen Pfad entlang, der sich
aber zunehmend im Dickicht der Bäume verlor. Schließlich musste Radegund meist
in gebeugter Haltung reiten, um den tiefen Ästen auszuweichen. Lidomir
versuchte sie eine Weile durch Geplauder bei Laune zu halten, doch allmählich
verging wohl auch ihm die Lust dazu. Als sie einige Stunden später über Hunger und
Erschöpfung klagte, willigte der Anführer ihrer Begleitwache nur sehr
widerwillig in eine Unterbrechung der Reise ein. Ihr schien, die Männer des
Bischofs hatten es eilig, wieder heimzukehren. Schließlich war sie froh über
die hereinbrechende Abenddämmerung, die es bald unmöglich machte, noch weiter
zu reiten. Auf einer Lichtung zündete man ein Lagerfeuer an. Nachdem man sich
mit Met und geräuchertem Fleisch gestärkt hatte, begann der Aufbau der Zelte.
Die Dunkelheit kam schnell und legte sich wie eine schwarze Hand über den Wald,
der Radegund selbst bei Tageslicht kein heimeliger Ort schien. Trotz der
Wolldecken war der Erdboden, auf dem sie lagerten, hart und feucht. Unheimliche
Geräusche drangen aus der Finsternis an ihr Ohr, das Schleichen, Huschen und
Flüstern unbekannter Wesen. Sie dachte an Dämonen und rief sich zur Beruhigung
in Erinnerung, dass sie noch niemals solche Geschöpfe gesehen hatte, und daher
nicht sicher wusste, ob es sie überhaupt gab. Vermutlich handelte es sich nur
um wilde Tiere. Oder um Räuber. Beide Vorstellungen waren nicht unbedingt
beruhigend. Sie klammerte sich an Lidomir und dachte an die bewaffnete Wache in
ihrer Nähe. Glücklicherweise sorgte die Erschöpfung nach dem langen Ritt dafür,
dass sie trotz aller Ängste rasch einschlief.
Nach mehreren
derart anstrengenden Tagen erreichten sie den Wall, der das Ende des
Frankenreiches markierte. Ein kleines, von Kriegern bewachtes Tor wurde
geöffnet, und die Begleiter verabschiedeten sich rasch. Weitgehend unbekanntes
Land lag jenseits des Walls. Radegund fielen plötzlich alle schrecklichen
Geschichten wieder ein, die sie je über blutrünstige, wilde Heiden gehört
hatte. Sollte sie an einen Ort gehen, vor dem es selbst den Männern des
Bischofs grauste? Erleichtert dachte sie an die Worte von Konstantin, dem
Römer, der die Nachricht von ihrer Entscheidung für Lidomir mit Fassung
hingenommen hatte. Praha galt als zunehmend beliebter Handelsort, an dem es
Felle, Waffen und Tücher mit farbenfroher Stickerei zu erwerben gab. Händler
aus aller Welt machten dort Halt. Wovor also sollte sie sich fürchten? Es wäre
nicht wie das prunkvolle Rom, wohl auch nicht wie ihre Heimat Regensburg, aber
allemal besser als ein Zelt im Wald, dessen sie überdrüssig war. Sie spürte,
wie Lidomir ihre Hand ergriff.
„Komm, wir
müssen weiter. Ich bin mir sicher, dass meine Leute schon in der Nähe sind.“
Und so ritten
sie durch das Tor in die Fremde. Sie sah nicht anders aus als jene Gegend, die
hinter ihnen lag. Bewaldetes Bergland. Radegund seufzte innerlich. Sie war es
leid, stets daran denken zu müssen, dass ihr Pferd stolpern und sie mit ihm in
einen Abgrund stürzen konnte. Außerdem waren sie nur noch zu zweit, ein viel
leichteres Opfer für alle gefährlichen Gestalten, die der dunkle Wald
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