Die Träume der Libussa (German Edition)
die rohen Lebensgewohnheiten heidnischer
Völker mussten wohl Übertreibungen sein.
Eine Frau
schritt über den Hof. Sie trug ein Kleid, das kunstvoller bestickt war als die
Gewänder der Umstehenden. Aufmerksam musterte Radegund das farbenfrohe Muster
aus Blumen und Kreuzstichen. Ketten klirrten am Hals der Unbekannten, und ihr
Haar war unter einem aufwändig verzierten Kopfputz verborgen, der von einem
silbernen Band in Form gehalten wurde. Diese Aufmachung gefiel Radegund und sie
fragte sich, ob sie bald ähnliche Kleidung bekäme.
Die Frau war
jetzt so nahe, dass Radegund ihr Gesicht mustern konnte. Es hatte glatte,
ebenmäßige Züge, und die blauen Augen leuchteten warm. Falten unter den Augen
und an den Mundwinkeln zeugten davon, dass die Unbekannte ihre Jugend hinter
sich gelassen und Leid erfahren hatte, doch das Alter vermochte ihr nicht die
Schönheit zu rauben. So anmutig hatte Radegund sich einst die Jungfrau Maria
vorgestellt, früher, als sie noch meinte, die Muttergottes sei ihr
wohlgesonnen.
Lidomir war
erneut vom Pferd gesprungen, und ging rasch auf die Unbekannte zu. Die Hände
der Frau glitten über sein Gesicht, und sie murmelte leise Worte, die Radegund
nicht hören konnte. Ihr Gesicht strahlte ungläubig, als könne sie noch nicht
recht fassen, wer da vor ihr stand. Eine Ahnung überkam Radegund. Die Fürstin.
Seine Mutter. Als die Frau Lidomir um den Hals fiel und ihn mit aller Kraft an
sich drückte, gab es keine Zweifel mehr.
Andere Menschen
drängten sich heran. Ein älterer Mann in schlichtem Gewand, der Lidomir wie aus
dem Gesicht geschnitten war, wollte ihn ebenfalls umarmen. Bald hatte sich eine
Traube aus glücklich durcheinander plappernden Leuten um Radegunds Gemahl
gebildet. Mnata, der Hunne, mischte sich ebenfalls unter die Versammelten. Sie
selbst saß immer noch auf dem Pferd und kämpfte gegen ein erdrückendes Gefühl
der Enttäuschung an. Bisher hatte Lidomir nur ihr allein gehört, doch nun würde
sie ihn wohl mit all diesen Fremden teilen müssen.
Erst nach einer
Weile wandte er sich wieder Radegund zu und lächelte entschuldigend. „Verzeih,
dass ich mich eine Weile nicht um dich gekümmert habe. Ich sehe meine Familie
zum ersten Mal nach neun Jahren“, erklärte er. Dann machte er sich daran, sie
endlich vorzustellen. „Dies ist meine Frau Radegund aus Regensburg. Sie ist mir
gefolgt.“
Das Geplauder
verstummte plötzlich. Alle Augenpaare waren auf Radegund gerichtet, deren Magen
sich vor Aufregung verkrampfte, als sie aus dem Sattel glitt. Wie sie dieses
hässliche, verschmutzte Kleid hasste! Warum hatte man ihr kurz vor der Ankunft
keine Gelegenheit gegeben, sich zu waschen und herzurichten?
Lidomirs Mutter
trat vor. Ihre blauen Augen war weit vor Staunen.
„Kannst du mich
verstehen?“, fragte sie langsam.
Radegund
nickte. Sie hatte diese slawische Sprache rascher begriffen als das Latein im
Kloster, vielleicht, weil sie wusste, wie wichtig es war, sie schnell zu
erlernen.
„Ich heiße dich
bei uns willkommen, Radegund. Unser Zuhause soll auch das deine werden.“ Die
Stimme der Fürstin klang freundlich, doch Radegund bemerkte die befremdeten
Blicke der Umstehenden. Schweiß trat aus ihren Poren. Als ob sie nach der Reise
nicht schon genug gestunken hätte!
„Zu Ehren der
Ankunft meines Sohnes haben wir ein Festmahl vorbereitet“, kam es wieder von
Lidomirs Mutter. „Dann hast du Gelegenheit, unseren Clan in Ruhe kennen zu
lernen.“
„Könnte ich
mich vorher waschen und umkleiden?“, meinte Radegund sogleich. Als sie das
Nicken der Fürstin sah, war sie einfach nur erleichtert.
„Man wird dir
eine Kammer zuweisen. In der Zwischenzeit können wir alle noch etwas mit
Lidomir plaudern.“
Radegund
versetzte diese Antwort einen Stich. „Willst du dich nicht auch waschen?“,
flüsterte sie ihrem Gemahl ins Ohr, um nicht auf seine Gegenwart verzichten zu
müssen.
Er erwiderte
schmunzelnd: „Ich brauche sicher nicht so lange wie du, um mich für ein Fest
herauszuputzen, mein Herz.“ Dies war nicht der erste Scherz, den er über ihre
Eitelkeit machte, doch sie war bisher nie verletzt gewesen. Sie zweifelte nicht
daran, dass er heimlich stolz auf das reizvolle Äußere seiner Frau war. Doch
nun kamen ihr seine Worte plötzlich herablassend vor. Bevor sie etwas erwidern
konnte, hatte sich schon wieder eine Traube aus Menschen um Lidomir gebildet,
die sie ausschloss.
Die Feier fand in einem großen
Saal mit hölzernen Wänden statt. Bunt
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