Die Träume der Libussa (German Edition)
einen Augenblick
lang vergessen. Gemeinsam kehrten sie in die Festung zurück und stiegen die
Stufen zu einer Kammer hoch. Mehrere Mädchen waren dort versammelt. Scharka
nannte ihre Namen – Dienerinnen offenbar, die ihr nahe standen. Zwei von ihnen
hielten Spindel in der Hand, während eine dritte sich an einem Webstuhl zu
schaffen machte. In der Ecke des Raumes bemerkte Radegund mehrere Eimer, in
denen Stoffe gefärbt wurden. Ein weiteres Mädchen war im Begriff, eine bereits
fertige Tunika mit Stickereien zu versehen.
Alle Anwesenden
nickten ihr zur Begrüßung zu, obwohl sie das Gefühl hatte, durch ihr Auftauchen
ausgelassenes Geplauder unterbrochen zu haben. Scharka wies ihr einen Hocker
zu.
„Radegund
möchte uns Gesellschaft leisten.“
Niemand
widersprach. Sie erhielt ein Stück Leinen und bunt gefärbte Wollfäden sowie
eine Holznadel. Aufmerksam begann sie jene Muster nachzuahmen, die sie so oft
auf den Gewändern der Fürstin Libussa gesehen hatte. Breite Kreuze und Blumen.
Diese Tätigkeit begeisterte sie derart, dass sie für eine Weile ihre Umgebung
vergaß.
„Das kannst du
erstaunlich gut“, bemerkte Scharka nach einer Weile. „Stickt man bei euch
Franken auch so?“
Radegund
schüttelte den Kopf. „Die Farben sind etwas dunkler. Das gefällt den
Kirchenmännern, ebenso wie schlichtere Formen. Frauen, die sich zu auffällig
kleiden, sind nicht immer gern gesehen, aber mir gefallen eure Gewänder“,
erklärte sie und stieß auf überraschte Blicke.
„Dann passt sie
ja zu unserem Volk, wenn sie Farben mag“, verkündete eine unbekannte
Mädchenstimme. Radegund staunte, wie sehr diese Bemerkung sie freute.
„Erzähle uns
doch einmal, wie du meinen Bruder kennen gelernt hast“, meinte Scharka, nachdem
sie eine Weile schweigend am Webstuhl gesessen war. „Diese Geschichte von eurer
Liebe, das hat allen gefallen." Die Gesichter der anderen Mädchen waren
plötzlich wie Türen, die sich einen Spaltbreit öffneten.
Ermutigt begann
sie zu erzählen. Von dem Tanz am ersten Mai, den heimlichen Treffen am Fluss
und schließlich ihrer eigenen Aufforderung zur Eheschließung. Auch den
römischen Händler ließ sie nicht aus, denn die anderen Frauen sollten nicht
denken, sie hätte keine Wahl gehabt, als Lidomir zu nehmen.
„Du warst wegen
eines Mannes bereit, dein Zuhause zu verlassen?“, fragte eine kleine
Braunhaarige mit dem Gesicht eines Hasen.
Radegund
verstand nicht, worauf sie hinauswollte. „Ich hatte die Möglichkeit, Gemahlin
eines wohlhabenden Händlers zu werden und in einer der größten und ältesten
Städte der Welt zu leben", erklärte sie. „Aber ich folgte meinem Herzen
und wählte Lidomir.“
„Das muss wahre
Liebe sein", erkannte das Hasengesicht. „Aber ich würde meine Familie hier
niemals aufgeben, ganz gleich, ob ein Mann reich ist oder mir besser gefällt
als irgendein anderer. Fiel es dir nicht schwer, von deiner Mutter Abschied zu
nehmen?“
Radegund fühlte
eine kalte Hand an ihrem Herzen. „Meine Mutter ist vor langer Zeit gestorben.
Mein Vater hat sich eine andere Frau genommen, doch die hat mich nicht
geliebt.“
Kaum waren
diese Worte ausgesprochen, erschrak sie über ihre Offenheit. Die Blicke der
Mädchen waren mitfühlend geworden, und sie hatte wieder einmal das Gefühl,
Almosen zu empfangen. Zu ihrem Entsetzen legte sich Scharkas Hand auf die ihre.
„Das muss schlimm gewesen sein. Nichts ersetzt die Liebe einer Mutter. Du
sollst wissen, dass dein Zuhause nun bei uns ist, Radegund. Wir werden deine
Familie sein.“
Seltsamerweise
war der Druck von Scharkas Fingern angenehm.
„Woran starb
deine Mutter?“, flüsterte ein anderes der Mädchen.
„An ihrem
Unglück", sprach Radegund einen lang gehegten Verdacht aus. „Sie kam aus
einem Land der Sonne in die Kälte, um meinen Vater zu heiraten. Er mochte sie
nicht besonders. Sein Herz gehörte einer anderen. Dann verlor er auch noch sein
Vermögen, und sie musste leben wie eine einfache Frau. Das war sie nicht
gewöhnt.“
„Ein Grund
mehr, seine Heimat nicht zu verlassen", erklärte die Hasengesichtige.
Radegund fühlte Zorn in sich aufsteigen. Welche Wahl hatte ihre Mutter denn
gehabt, wenn ihre Familie diese Verbindung wünschte?
„Jedes Volk hat
seine Sitten", warf Scharka ein, als könne sie fühlen, wie Radegund zumute
war. „Ich selbst würde niemals aus Praha fortgehen. Auch nicht, wenn meine
Mutter stirbt.“
„Warum solltest
du auch?“, erwiderte ein anderes Mädchen. „Du
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