Die Träume der Libussa (German Edition)
des Lebens? Diese Leute hatten wohl nicht viel zu tun, deshalb
grübelten sie tagein, tagaus, und dann schrieben sie es eben auf, weil sie es
konnten. Du kannst ebenso gut mit Menschen aus deinem Volk reden, wenn du hören
willst, was andere über das Leben denken.“
Zu Libussas
Staunen erschien ein Schmunzeln auf Radegunds Gesicht, als hätte Premysls
respektloser Kommentar ihr gefallen.
„Die Gedanken
dieser Männer waren tiefgründiger, Vater, eben weil sie viel Zeit und Muße zum
Nachdenken hatten", widersprach Lidomir mit erstaunlicher
Entschlossenheit. „Du urteilst über Dinge, die du nicht kennst.“
Libussa
erschrak, doch musste sie ihrem Sohn Recht geben. Premysl ging manchmal zu weit
in seinem Spott. Tief in ihm steckte immer noch der unsichere, stolze Bauernjunge.
„Haben auch
Frauen manchmal etwas geschrieben?“, kam es nun von Kazi, die in Praha
geblieben war, um nach der altersschwachen Kveta zu sehen. Tschastawa vermochte
sie inzwischen als Heilerin zu vertreten.
Lidomir nickte. „Es gibt einige
Schriften von Frauen, doch es sind wenige. Als der christliche Glaube noch von
allen Machthabern bekämpft wurde, waren viele mutige Frauen unter seinen
Anhängerinnen. Erst jetzt, da einige christliche Männer Macht haben, beginnen
sie den Frauen Vorschriften zu machen und möchten ihnen das Schreiben
verbieten.“
Kazis Gesicht
verzog sich, als sei für sie eine düstere Ahnung bestätigt worden. Sie senkte
ihren Blick schweigend und löffelte weiter ihre Gemüsebrühe.
„Meine
Schwester schreibt gern ihre eigenen Gedanken auf", mischte sich auf
einmal die junge Fränkin ins Gespräch. Libussa staunte über Radegunds
aufgewühlte Miene, als sei eine Maske von ihrem Gesicht gerutscht, und man
könne zum ersten Mal sehen, was sie bewegte. „Sie ist sehr gelehrt und kann
sogar hervorragend Latein. Doch der Bischof will ihr verbieten, selbst zu
schreiben.“
Libussa wollte
fragen, was für eine Sprache dieses Latein war, doch Premysl begann sogleich zu
reden. „Hätte deine Schwester vielleicht den Wunsch, hierher zu kommen und uns
zu lehren, was sie kann?“
Libussa
musterte ihren Gefährten fassungslos. Seine Stimme war frei von Hohn gewesen.
„Ich meine“,
fuhr er verlegen fort, denn er musste ihren überraschten Blick bemerkt haben,
„so schlecht ist es vielleicht nicht, das Schreiben. Wenn ich anderen Leuten
etwas erzähle, geben sie es meist anders weiter, als ich es gemeint habe. Doch
wenn ich Worte auf Baumrinde kratze, dann sind sie so, wie ich sie haben will.“
Radegund sah
ihn strahlend an. Sie schien auf einmal sehr lebendig. „Anahild, meine Schwester,
ist eine überzeugte Christin. Aber ich glaube, es würde ihr gefallen, anderen
Menschen ihr Wissen zu vermitteln.“
Libussa
erkannte sofort, dass Radegund ihre Schwester sehr vermisste, und sie fragte
sich, ob es eine gute Idee wäre, ein weiteres christliches Mädchen nach Praha
zu holen. In diesem Augenblick ging die Tür auf. Eine aufgeregte Magd
verkündete das Eintreffen des Stammesführers.
Krok trat
langsam herein. Er musterte die Versammelten, die schon fast alle Schüsseln auf
dem Tisch geleert hatten.
Er ist ein
alter Mann geworden, dachte Libussa und verstand nicht, woher diese Erkenntnis
plötzlich kam. Graues Haar hatte er schon seit langem. Doch sein Gesicht kam
ihr plötzlich erschöpft vor, so als habe er zu viel gesehen, um noch am Leben
Anteil nehmen zu wollen. Die Anwesenden nickten zur Begrüßung. Libussa erhob
sich den Regeln entsprechend.
„Es ist eine
Freude, dich wieder bei uns zu sehen, Onkel", sagte sie und fragte sich,
warum sie einen so förmlichen Ton anschlug. Es war nur ihre Familie zugegen.
Etwas an Kroks Anblick verunsicherte sie.
„Es ist auch
mir eine Freude, wieder hier zu sein.“
Seine Stimme
klang zu müde, um wahre Freude auszudrücken. Er musterte die versammelte Runde
eindringlich. Sein Blick blieb an Lidomir hängen. „Nun bist du wieder bei uns.
Ich habe gehört, du hast dich taufen lassen.“
Libussas Magen
krampfte sich zusammen. Sie hatte ihrem Sohn bisher keine solchen Fragen
stellen wollen. Doch Krok fragte nicht einmal. Sie sah, wie Lidomir unter der
Macht seines Blicks zusammensackte. „Ich hatte keine andere Wahl im
Frankenreich. Aber ich bin freiwillig zu euch zurückgekommen. Damit habe ich
eine Entscheidung getroffen", erwiderte er.
„Keine andere
Wahl", kam es spöttisch von Krok. „Das sagte wohl auch Widukind, der
Anführer der Sachsen. Er ist jetzt
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