Die Träume der Libussa (German Edition)
bist unsere zukünftige Fürstin
und Hohe Priesterin.“
Scharka senkte
den Kopf, als sei ihr diese Bemerkung unangenehm. Radegund blickte verwirrt um
sich. Sollte ein Mädchen die Nachfolge antreten?
„Deine Mutter
hat doch ... sie hat nicht nur eine Tochter?“
Scharkas Augen
weiteten sich staunend. „Soviel ich weiß, hat sie kein anderes Mädchen
geboren.“
Es gab etwas
Gekicher.
„Also daran
könnte eine Frau sich erinnern", meinte das Hasengesicht.
„Aber sie hat
... sie hat mindestens einen Sohn", meinte Radegund entschieden. Sie
wusste nicht, wie der Hunne einzuordnen war.
„Natürlich hat
Fürstin Libussa Söhne. Doch nur eine Frau kann Hohe Priesterin sein. Und auch
Fürstin. Nur in Ausnahmefällen dürfen Männer Alleinherrscher werden",
sagte ein Mädchen, das bisher geschwiegen hatte. Ihr Gesicht wirkte männlich
und glich dem eines Gelehrten.
Bruchstücke der
Unterhaltung Libussas mit dem Fürsten Slavonik tauchten in Radegunds Erinnerung
auf. Sie war damals zu sehr von der Erscheinung des dunkelhaarigen Mannes
eingenommen gewesen, um dem Inhalt des Gesprächs genau zu folgen. Doch nun
stieg eine bizarre Ahnung in ihr auf. Hatte Lidomir nicht auch einmal etwas
Derartiges angedeutet? Sie bohrte nach und ließ sich von den Mädchen die
Regelung der Nachfolge erklären.
Das sieht mir ähnlich, dachte
sie, als sie die Erklärungen begriffen hatte, ich heirate einen Fürstensohn,
doch er kommt aus einem Land, wo verrückte Bräuche herrschen und ich als seine
Gemahlin nichts wert bin. Selbst wenn er eines Tages der Nachfolger dieses Krok
werden sollte, bleibe ich nur sein Anhängsel und eine Andere wird Fürstin sein.
Sie legte das bestickte Leinentuch beiseite und entfernte sich sobald wie
möglich mit einer Entschuldigung von den Mädchen.
Lidomir hatte
eine Wunde am Arm, die mit grobem Tuch umwickelt war. Stöhnend sank er auf die
gemeinsame Bettstatt, und schloss sogleich die Augen. Selbst während des
Abendessens hatte er sich nur mühsam aufrecht gehalten.
„Damals in
Regensburg wirktest du zufriedener“, bemerkte Radegund. "Gefällt es dir
nicht, mit dem Schwert umzugehen?"
Lidomirs Blick
war müde. „Ich muss lernen, zu kämpfen. Anders geht es nicht. Onkel Krok hat
große Opfer gebracht, um mir meine Heimkehr zu ermöglichen. Ich darf ihn nicht
enttäuschen.“
Radegunds Magen
verkrampfte sich zornig. „Hat er dich denn gefragt, ob du wieder hierher kommen
willst, um ein Krieger zu werden? Du hast doch so gern die Bücher von Vater
Anselm studiert. Vermisst du ihn nicht, diesen Priester, der so gut zu dir
war?“
Lidomir legte
seufzend den Arm um sie und löste so ein erstaunliches Glücksgefühl aus. Einen
Augenblick lang war Radegund zufrieden, geliebt zu werden.
„Natürlich
vermisse ich Vater Anselm", murmelte er. „Aber ich wusste immer, dass ich
zu meinen Leuten zurückkehren würde. Welche Zukunft hätte ich denn im
Frankenreich gehabt? Ich wollte kein Geistlicher werden, vor allem nicht im
Dienst des Königs. Hier ist mein Zuhause, auch wenn ich mich erst wieder daran
gewöhnen muss. Ich weiß, wie schwer es gerade für dich ist. Bereust du es, mir
gefolgt zu sein?“
Der unsichere
Klang seiner Stimme trieb sie enger in seine Umarmung. Auf einmal fühlte sie
sich stark. „Ich bereue es nicht, denn ich wollte keinen anderen Mann.“
Wie gut es tat,
einem Menschen mit solchen Worten Freude schenken zu können!
„Ich werde mich
an das Leben hier schon gewöhnen“ fügte sie hinzu. „Aber Lidomir, du bist der
einzige echte Sohn der Fürstin. König Karl weiß von dir. Du solltest versuchen,
etwas aus deiner Stellung zu machen.“
Sein staunender
Blick erschien ihr einfältig.
„Was meinst du
damit, Radegund?“
„Ich meine,
dass ... dass ... warum soll die Nachfolge deiner Schwester zufallen, wenn
überall auf der Welt Söhne die ersten Erben sind?“
Lidomir
verletzte sie, indem er ein Stück von ihr wegrückte. „Aber bei uns ist es eben
anders. So ist es immer gewesen. Warum sollte ich es ändern wollen?“
Radegund drehte
ihm den Rücken zu und umschlang ihre Knie mit den Armen. „Du hast mir nie
gesagt, dass dir nicht die Nachfolge als Fürst zusteht.“
„Danach hast du
mich nie gefragt. Es ging nur um uns. Ob wir zusammenbleiben wollen. Warum ist
es dir plötzlich so wichtig, welche Rolle ich bei meinem Volk einnehme? Wir
leben hier nicht schlecht.“
Damals in
Regensburg war es ihr tatsächlich gleichgültig gewesen, welche Zukunft
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