Die Träume der Libussa (German Edition)
bemerkte. Schmutz, Schweiß und Schmerzen waren zu einem
selbstverständlichen Bestandteil ihres Lebens geworden, als die Mauer endlich fertig
gestellt war. Oben spitzte man die Pfähle an, um ein Eindringen von Feinden zu
erschweren. Vier Wachtürme wurden gebaut, die mit Leitern zu erklimmen waren,
und ein von Balken gestützter Rundgang, der die Türme miteinander verband.
Danach begann man, rund um die Mauer von Praha einen Graben auszuheben. Die
Brücke zum Eingangstor konnte eingezogen werden, sobald ein Angriff drohte. Es
waren zusätzliche Holzpalisaden zur Sicherung des Grabens geplant. Libussa
missfiel es als Einziger, den Kern ihrer Festung derart eingezäunt zu sehen,
denn in ihren Träumen schien Praha allen Fremden zugänglich. Doch sie wusste,
dass solche Träume nicht der Wirklichkeit entsprachen. Eine Festung diente
immer auch dem Schutz ihrer Bewohner.
Der Schrein
wurde errichtet, als die Mauer bereits stand. Premysl schnitzte eine Statue der
Göttin Morana und fertigte auch Bildnisse von Perun, Veles und Mokosch an.
Schamanen stimmten heilige Gesänge an, um die Götter in ihr neues Heim zu
rufen. Libussa sprach Gebete und hielt die heilige Tonscheibe der Sonne
entgegen. „Mokosch, große Mutter und Göttin der Sonne, segne diesen Ort mit
deiner Gegenwart, auf dass er blühen und gedeihen möge.“ Sie hatte das Gefühl,
eine unsichtbare Hand streife ihr Gesicht.
Ihr Schlaf war
friedlich geworden, was sicher auch an der täglichen Erschöpfung lag. Premysl
freute sich über bessere Lebensmöglichkeiten für viele Bauern, die vor der
Festung frisches, unverbrauchtes Land vorfinden konnten. Krok freute sich über
die günstige Lage der Siedlung als Handelsplatz. Die Biegung des Flusses würde
viele Schiffe zum Halten bringen, die an Chrasten vorbei gefahren waren. So gab
es bessere Möglichkeiten, Tauschgeschäfte zu machen, von denen alle Bewohner
Prahas und der Umgebung Vorteile ziehen konnten. Die Anlegestelle war bereits
erbaut. Mit der Gunst der Götter, meinte Krok, könnte Praha zu einem Ort
werden, der sich bei den fahrenden Händlern aus aller Welt großer Beliebtheit
erfreute. Libussa spürte dass sie getan hatte, was sie tun musste. Alles weiter
würden höhere Mächte entscheiden, deren Ziele ihr unbekannt waren.
Am Abend der Einweihung, als es
dunkel wurde, blieb Libussa allein an dem Schrein zurück, in der Hoffnung, die
Götter würden ihr ein Zeichen geben. Sie wollte beten, wie sie allen erzählte,
und da die Mauer bereits stand, ließ man sie gewähren. Zunächst fühlte sie nur
Einsamkeit und Kälte. Die Statue der Göttin Morana schien nichts weiter als
eine schöne Schnitzerei. Erst nachdem die feinen Melodien wieder in ihren Ohren
erklangen, sah sie wie das Holz zu leuchten begann, als sei es Harz.
„Dies ist der
Ort, den wir schaffen wollten, bevor man uns vergisst. Er wird fortbestehen,
auch wenn niemand mehr unsere Namen kennt“, unterbrach eine weibliche Stimme
die Musik. „Hierher wird er kommen, um bis zum Ende für uns zu
kämpfen.“
„Wer wird
kämpfen?“, fragte Libussa verwirrt. Das Strahlen der Statue war so stark
geworden, dass sie die Augen schloss. Sie sah vor ihrem inneren Auge einen
jungen Mann mit pechschwarzem Haar, dessen brauner Körper fast nur aus Muskeln
zu bestehen schien, Er schwang sein Schwert mit einem müden Blick in den
seltsam schrägen Augen.
„Sein Name
bedeutet Erinnerung. Er wird die alten Götter und Sitten nicht vergessen",
flüsterte die Stimme der Göttin ihr ins Ohr.
Als Libussa aus
ihrem Traum erwachte, grübelte sie, welche Bedeutung er haben könnte. Doch
nachdem sie angefangen hatte, gemeinsam mit anderen Frauen Essen für die
Arbeiter vorzubereiten, zerfiel er bereits in unzusammenhängende Scherben. Bald
schon hatte sie ihn fast vergessen.
5
Libussa stand oben auf dem
Wehrturm und musterte die Umgebung. Die Arbeit vieler Jahre hatte den Wald noch
weiter zurückgedrängt. Zahlreiche Dörfer waren auf dem Hügel und in seiner
Umgebung entstanden, und da die Erträge gut waren, wie Premysl vorausgesehen
hatte, wuchsen sie ständig. Auch am anderen Ufer der Vltava begannen sich neue
Siedler niederzulassen. Premysl zog den Bau einer Brücke in Erwägung, die
allerdings hoch genug sein musste, damit die Schiffe und Flöße der Händler
unter ihr durchfahren konnten. An der Anlegestelle war ein großer Holzbau
errichtet worden, um diesen fahrenden Händlern eine Unterkunft zu bieten. Es
kamen inzwischen so
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