Die Träume der Libussa (German Edition)
viele, dass es nicht immer möglich war, sie in der Festung
unterzubringen. Der Hof stand nun voller Hütten, in denen die Handwerker
lebten. Leute aus dem Umland kamen regelmäßig mit Karren, um Felle, Leder und
Getreide zum Tausch anzubieten. Libussa hatte einen Markttag in der Woche
eingeführt, an dem Praha wie ein fremder Ort wirkte, so viele unbekannte
Gesichter liefen dann in der Festung herum. Sie hatte darin bereits große,
rotbärtige Nordmänner gesehen und kleine schwarzhaarige Menschen mit ledrig
brauner Haut sowie einige Schrägaugen aus dem Reich der Awaren. Premysl
schenkte ihr einmal die Statue eines kleinen, lächelnden Mannes, der in einer
höchst unbequemen Stellung auf dem Boden saß. Seine Beine wirkten wie
ineinander verknotet. Angeblich handelte es sich dabei um eine Götterfigur aus
einem sehr weit entfernten Land. Obwohl Premysl das Eintreffen von Edelsteinen
und Silber immer noch mit Skepsis beäugte, gelang es ihm, mit seinen
geschnitzten Statuen überaus gute Tauschgeschäfte zu machen.
Dass die
jährlichen Zeremonien nun hier stattfanden und die fürstlichen Clans sich im
großen Saal von Praha versammelten anstatt in Chrasten, galt mittlerweile als
selbstverständlich. Kazi und Thetka waren der Schwester in das neue Heim
gefolgt. Nur Krok blieb in Chrasten, das glücklicherweise zu Pferd sehr schnell
zu erreichen war. Libussa konnte deutlich die Türme der älteren Festung am
Horizont erkennen. Kroks Abwesenheit schmerzte zunächst, doch mit der Zeit
erkannte sie es als befreiend, nicht ständig im Schatten ihres Onkels zu
stehen. Diese Festung mit den umliegenden Siedlungen war von ihr ins
Leben gerufen worden. Sie hatte dadurch bei ihren Leuten an Ansehen gewonnen.
Zufrieden
kletterte sie die Leiter in den Hof hinab. Es war ein milder Herbsttag und da
sie die letzten Ratsuchenden bereits angehört hatte, konnte sie mit Premysl
vielleicht noch kurz am Ufer ausreiten, bevor die Dämmerung anbrach. Mit
raschen Schritten ging sie auf das Hauptgebäude zu und erschrak, als plötzlich
eine Kinderhand nach ihrem Arm griff.
„Sieh her, was
ich hier habe, Tantchen!“, rief das kleine blonde Mädchen, die Tochter ihrer
Schwester Thetka, stolz und hielt ihr einen Holzkäfig entgegen, in dem eine
Amsel saß. „Vojen und ich haben sie im Wald gefunden, mit gebrochenem Flügel.
Da haben wir sie zu Tante Kazi gebracht, die sie versorgt und in den Käfig
gesteckt hat. Sie sagt, ich soll sie füttern, bis sie wieder fliegen kann. Und
wenn ich es nicht richtig mache, dann nimmt sie sie mir wieder weg, so wie
damals den jungen Hund. Sie sagt, Vojen kann kein Tier versorgen, obwohl er ihr
Sohn ist.“
Stolz schwang
in Vlastas Stimme mit. Ihr war eine Aufgabe zuteil geworden, die jemand anderem
nicht zugetraut wurde. Libussa betrachtete die vor Angst zitternde Amsel. Es
erstaunte sie, dass Kazi Thetkas Tochter Vlasta freiwillig ein Tier
anvertraute, denn Fürsorglichkeit gehörte nicht unbedingt zu den guten
Eigenschaften des wilden Mädchens, das vor kurzem sieben Jahre alt geworden
war. Vielleicht hoffte Kazi, Vlasta würde durch die Pflege von Tieren
Rücksichtnahme lernen, aber Libussa war skeptisch. In Thetkas Tochter war der
ungeduldige, herrische Geist der Fürstin Scharka wiedergeboren worden. Sie
schien noch starrköpfiger und aufbrausender als Thetka selbst. Libussa strich
dem Mädchen über das Blondhaar.
„Sag am besten
einer deiner Mägde, dass sie dich daran erinnern soll, den Vogel regelmäßig zu
füttern. Außerdem braucht er sicher auch Wasser. Wir wollen doch nicht, dass er
stirbt. Dann wäre Kazi sehr traurig.“
Vlasta nickte
und eilte mit dem Käfig davon. Ein paar Schritte von Libussa entfernt war nun
ein Junge stehen geblieben, der das Geschehen mit todernstem Gesicht musterte.
Libussa lächelte ihm zu, doch er reagierte nicht darauf. Seine dunklen Augen
folgten Vlasta, die an ihm vorbeilief, ohne ihn zu beachten.
Vojen hatte das
spitze Gesicht und den dunklen Haarschopf seiner Mutter Kazi geerbt. Er war
auch ebenso verschwiegen, stets in sich gekehrt, als trenne ihn eine
unsichtbare Mauer von anderen Menschen. Doch während Kazi in ihrer
Verschlossenheit zufrieden schien, blickte der Junge meist mürrisch drein.
Libussa begrüßte ihn freundlich, so dass er ihr wohl oder übel zunicken musste.
Dann ging sie weiter. Sie hatte im Augenblick nicht die Muße, um den
schwierigen Vojen zum Reden zu bringen, auch wenn ihr jetzt wieder einfiel, dass
Kazi ihrem Sohn kein Tier
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