Die träumende Welt 02 - Das Schattenreich
»Das war ebenso mutig wie dumm. Versuch es nicht noch mal!«
Ashlin schüttelte den Kopf. Er hatte die Augen aufgerissen und war blass geworden. Er hüstelte schwach und verzog das Gesicht, dann widmeten sich die drei wieder der Beobachtung der Wand.
Eine halbe Stunde verstrich und nichts geschah.
»Gibt es denn sonst niemanden, den wir hindurchbringen könnten?« fragte Hewe ruhig.
»Wir haben viele, die über ein gewisses Talent verfügen«, antwortete Paule, »aber niemanden, der sich an das hier heranwagen würde. Wer es gesehen hat, hat Angst davor.«
»Na, großartig!« murrte Hewe heftig. Sie warteten weiter - es gab nichts anders zu tun.
Dann hallten Schritte durch den dunklen Gang, und Egan kam atemlos hereingestürzt.
»Soldaten der Gilde!« keuchte er. »Jede Menge - sie kommen hierher.«
Hewe stieß einen Fluch aus.
»Und unsere Leute?« erkundigte sich Paule.
»Sie weichen zurück«, klärte Egan ihn auf. »Hier unten können wir ihnen keinen Widerstand leisten.«
»Wir müssen fort«, entschied Paule.
»Nein!« Ashlin packte ihn am Arm. »Wir dürfen Gemma nicht im Stich lassen!«
»Wir können ihr nicht helfen«, sagte Paule mit stahlhartem Blick. »Sei nicht dumm.«
Wütend zog Ashlin seine Hand zurück.
»Wie könnten versuchen, zu kämpfen«, schlug Hewe vor.
»Nicht in den Tunnel«, entschied Paule. »Das habe ich dir doch schon erklärt. Wir kämen nicht einmal bis zum Schlagabtausch. Sie würden uns abschießen wie Karnickel im Käfig.« Er hielt inne. »Wenn wir bleiben, wissen sie außerdem, dass hier drinnen etwas vor sich geht.« Er zeigte mit dem Daumen auf die blaue Wand. »Gemma wäre uns bestimmt nicht dankbar dafür.«
Hewe zögerte. Er spürte Ashlins Blicke auf seinem Körper.
»Gehen wir«, stimmte er schließlich zu.
Egan ging voraus, und alle warfen noch einen letzten Blick auf Gemmas Gefängnis.
Sie schlichen durch die schwach ausgeleuchteten Gänge. An einigen Stellen lieferte Egans Fackel das einzige Licht. Dicht hinter ihnen ertönte ein Scheppern, dann folgte ein Schrei, Gebrüll und der dumpfe Aufschlag eines fallenden Körpers.
»Verdammnis!« Paule sah Egan an. »Bring sie hier raus«, befahl er. »Wir kommen jetzt alleine zurecht.«
Sein Lieutenant zog ohne ein Wort los, und Paule führte sie weiter, vor sich hin murrend. Er führte sie durch eine Folge gewundener Gänge, dann ein paar Stufen hinauf, klopfte ein Zeichen an eine Falltür in der Decke und wartete, bis sie geöffnet wurde.
Kurz darauf saßen die drei Männer in Jordans unterirdischer Zufluchtsstätte unter der riesigen Müllhalde. Hewe und Paule waren tief in Gedanken, während Ashlin in Mutlosigkeit versank.
»Wir können Patrouillen aussenden und sie immer wieder ausspionieren«, meinte Paule, »aber jetzt, da die Männer der Gilde alarmiert sind, sind unsere Möglichkeiten begrenzt.«
»Der Untergrund war immer unser Reich«, bemerkte Hewe kopfschüttelnd. »Was hat sich daran geändert?«
»Ich weiß es nicht. Scheinbar können sie plötzlich im Dunkeln sehen. Sie haben keine Fackeln dabei und sind geradezu darauf aus, unsere auszulöschen. Offenbar kämpfen sie lieber, wenn es stockdunkel ist.«
»Außerdem haben sie neue Waffen«, meinte Hewe.
»Ja, und die sind obendrein tödlich genau - mögen die Götter wissen, wie das unter diesen Voraussetzungen funktioniert«, bestätigte Paule. »Kleine Metallpfeile, nicht länger als so.« Er hielt Daumen und Zeigefinger auseinander. »Unmöglich festzustellen, wieso sie so schnurgerade fliegen. Und noch etwas - die Soldaten der Gilde tragen seltsame Helme.« Paule breitete die Arme aus und zeigte an, wie verwirrt er war. »Sicher weiß ich nur, dass wir sie dort unten nicht bekämpfen können.«
Dann meldete sich Ashlin zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr zu Wort.
»Selbst wenn es Gemma gelingen sollte, wieder herauszukommen, können wir ihr also nicht helfen«, sagte er mit vor Angst erstarrtem Gesicht.
»Und wie?« flüsterte Gemma.
»Deine Zusammenarbeit mit mir ist genau festgelegt«, erwiderte Mendle und deutete mit einer Handbewegung auf ein großes Buch, das offen auf dem Marmortisch lag. »Komm her und sieh selbst.«
Gemma rührte sich nicht von der Stelle. Sie nahm ihren letzten Rest von Zuversicht zusammen und sagte trotzig: »Ihr könnt gar nichts tun, um mich zu zwingen, Euch zu helfen!«
»Ah, aber das ist ja gerade das Wundervolle daran«, antwortete er aalglatt. »Ich muss überhaupt nichts tun. Du hast den
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