Die träumende Welt 02 - Das Schattenreich
Neuigkeiten ein, die alle vorherigen Gerüchte verblassen ließen. Ein junger Mann namens Spratt überbrachte die Botschaft. Bei seiner Ankunft war er außer Atem und platzte fast vor Stolz, dass man ihn in das Allerheiligste ließ.
»Irgendetwas geht an der Baustelle vor«, keuchte er. »Der Boden zittert, und Menschen laufen in sämtliche Richtungen!«
»Das sehen wir uns besser selber an«, meinte Hewe. »Gehen wir.«
»Die Kammer, in der Gemma gefangengehalten wird, befindet sich genau unter der Baustelle«, sagte Ashlin, der Mühe hatte, auf die Beine zu kommen. »Vielleicht ist sie ...« Er brach ab, als ihn ein Hustenanfall übermannte. Niemand sprach, als sie Spratt nach draußen auf den Gang folgten.
Als sie an ihrem Beobachtungsposten in einem Gebäude in der Nähe der Baustelle eintrafen, schien die ganze Welt zu vibrieren, und die Luft war von einem tiefen Summen angefüllt. Staubwolken stiegen in den Himmel, und in den Wänden mehrerer Gebäude zeigten sich Risse. Es war unmöglich, einen klaren Blick auf die Baustelle zu bekommen, doch der Lärm und die wenigen Einblicke, die ihr Standort zuließ, wiesen darauf hin, dass die Bauarbeiten im Chaos versanken. An verschiedenen Stellen war die Einfassungsmauer eingestürzt, und verängstigte Männer und Frauen rannten um ihr Leben. Die Posten an den Toren liefen hin und her, sichtlich im unklaren über ihre Pflichten und offenkundig sehr nervös. Das kreischende Geräusch der gewaltigen, einstürzenden Metallkonstruktion und die Schreie der darin Eingeschlossenen hallten durch die ganze Stadt. Flammen sprühten Funken, flackerten in die Höhe, Lichtblitze zuckten so grell, dass die Mittagssonne im Vergleich dazu verblasste.
»Bei den Göttern!« stieß Hewe tonlos hervor. »Was für ein Chaos.«
»Was ist los?« fragte Ashlin, der hinter seinen Gefährten hergehumpelt kam.
»Das wüsste ich selber gerne«, erwiderte Paule.
Dann übertönte ein ungeheures Knirschen jedes Gespräch, und die Bohlen unten ihren Füßen zitterten noch heftiger. Fassungslos verfolgten sie die Geschehnisse und waren ebenso bestürzt wie jeder einzelne der zahllosen Bürger von Great Newport, die zu Zeugen des Unmöglichen wurden.
Ein glänzender, mehrere Zimmer breiter Metallzylinder erhob sich aus dem Boden. Die Gebäude ringsum kippten um, als wären sie aus Streichhölzern. Damit war die Verwüstung komplett. Der Turm schob sich langsam, aber unerbittlich in den Himmel, bis er alles ringsum überragte. Und noch immer wuchs er, eine leuchtende Säule aus Stahl, die fast die Wolken zu berühren schien.
Er wies kaum irgendwelche besonderen Merkmale auf, lediglich ein paar Vertiefungen unterbrachen die glatte, gekrümmte Oberfläche. Doch bevor sein künstliches Wachstum abgeschlossen war, erschien ein Zeichen, und der Turm sah noch unheilvoller aus als zuvor. Es war das Zeichen der aus dem Gleichgewicht geratenen Waagschalen, in schwarzen Linien eingeätzt.
Endlich kam der Turm zum Stehen. Es folgte eine Stille, in der niemand zu sprechen oder sich zu rühren wagte. Jeder in der Stadt war gespannt, was als nächstes geschah. Lange brauchten sie nicht zu warten.
Orangefarbene Flammen schossen aus mehreren der unteren Vertiefungen hervor. Das Feuer überdeckte die gesamte Baustelle und verwandelte alles dort - ob aus Metall, Stein oder Holz - in eine gleichförmige, schwarze schlammige Masse und verbrannte jeden, der das Pech hatte, sich noch dort aufzuhalten. Vielerorts erlitten die Umstehenden schwere Verbrennungen, als ihre Kleider und Haare Feuer fingen. Qualm und Rauch verätzten ihnen die Lungen.
Hewe und seine Gefährten fanden hinter den steinernen Wänden ihres Versteckes Schutz, doch selbst hier noch raubte ihnen die Hitzewelle den Atem.
Als Rauch und Gestank sich gelegt hatten, stand der Turm inmitten eines Kreises völliger Verwüstung. Im Gelände ringsum war alles, was Form und Gestalt hatte, vernichtet worden. Was blieb, war ein schwarzes Brandmal im Angesicht der Stadt.
Als sie die ersten vorsichtigen Blicke aus dem Fenster warfen, konnten sie sehen, wie Soldaten aus einer unsichtbaren Tür am unteren Rand des Turmes hervordrängten. Sie trugen eigenartige Helme, die ihren Kopf vollständig umhüllten, ansonsten schienen sie mit den üblichen Uniformen der Gilde bekleidet zu sein. Erst bei näherem Hinsehen zeigte sich, dass das Gebilde auf ihrer Brust nicht mehr die ausgeglichenen Waagschalen waren, die zum unangemessenen Wahrzeichen der Gilde geworden
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