Die träumende Welt 02 - Das Schattenreich
»Es ist alles so, wie ich es immer gewollt habe. Dein Zutun hat die Entwicklung lediglich beschleunigt.«
Wieder hielt er inne, und zum ersten Mal sah Gemma in den seelenlosen Augenhöhlen den grausam blinkenden Lebensfunken. Sie brachte immer noch kein Wort hervor.
»Wie ich sehe, bist du nicht überzeugt«, fuhr Mendle fort. »Ich werde versuchen, es zu erklären.« Er wandte ihr den Rücken zu und gab ihr damit deutlich zu verstehen, dass er sie nicht als Bedrohung empfand. Gemma drehte sich um und betrachtete das tanzende blaue Licht auf der Wand aus Elementalen. Sie setzte ihren Willen gegen seine Macht und wusste, dass sie hilflos war. Die Tür, die sie geöffnet hatte, war auf ewig verschlossen, und sie konnte von ihren Freunden keine Hilfe mehr erwarten. Als sie sich wieder umdrehte, betrachtete Mendle sie von einem Tisch am anderen Ende des Raumes.
»Deine Freunde können dir jetzt nicht helfen«, bemerkte er, als könnte er ihre Gedanken erraten. »Willst du dich nicht zu mir setzen?«
Gemma rührte sich nicht.
»Ich gebe zu, eine Zeitlang hegte ich Rachegedanken«, teilte Mendle ihr im Plauderton mit. »Ich hatte sowohl die Macht als auch die Mittel, dir größere Schmerzen zu bereiten, als ich erleiden musste. Doch das wäre jämmerlich gewesen. Männer mit Visionen, wie ich, dürfen sich nicht durch die Handlungen anderer von dem Weg ihrer Bestimmung abbringen lassen. Ich erkannte, dass für dich in meinem Triumph eine größere Rolle ausersehen war, als die des bemitleidenswerten, blutgetränkten Opfers.« Sein eisernes Gesicht blieb ungerührt, doch Gemma spürte sein boshaftes Grinsen hinter der Maske. Ihr fröstelte.
»Ich habe also eine andere Rolle für dich«, fuhr Mendle fort, »die mit deinem Eintreten hier beginnen kann. Für jemanden, der sie zu nutzen und zu ... missbrauchen weiß, hast du viel zu bieten.«
»Was könnte ich Euch bieten?« hauchte sie.
»Macht«, erwiderte er. »Du hast ihren Ruf befolgt, genau wie ich. Wir sind uns sehr ähnlich.«
»Nein!« Die Weigerung kam aus tiefstem Herzen.
Mendle lachte bloß. Es war ein unheilvolles, unnatürliches Geräusch, das zwischen seinen reglosen Lippen aus Metall herausdrang.
»Aber ich kann es beweisen«, sagte er. »Komm und sieh selbst.«
»Was ist passiert?« Ashlins Stimme war schrill vor Angst. »Hast du irgendetwas gesehen?«
Hewe starrte auf die durchscheinende blaue Barriere, hinter der Gemma verschwunden war.
»Dort drinnen war ein Mann«, sagte er zögernd. »Glaube ich jedenfalls.«
»Sonst nichts?«
»Das konnte ich nicht erkennen - es ging zu schnell.« Hewe wandte sich an seinen anderen Begleiter, doch Paule zuckte nur mit den Achseln, während er den Blick keinen Augenblick von der pulsierenden Wand aus Elementalen ließ.
»Wir müssen etwas unternehmen!« rief Ashlin. »Wir können nicht einfach hier rumstehen!«
»Was schlägst du vor?« fragte Hewe, doch seine äußerliche Ruhe machte Ashlin nur noch panischer.
»Sie ist in Gefahr, ich weiß es!«
»Gemma kannte das Risiko«, sagte Paule ruhig. »Vergiss nicht - sie war es, die die Tür geöffnet hat. Von uns ist keiner auch nur in die Nähe gekommen. Sie verfügt über beträchtliche Macht.«
»Wenn sie sie einmal öffnen konnte, dann kann sie es auch ein zweites Mal«, fügte Hewe hinzu. »Was immer sich dort drinnen befindet, sie wird spielend damit fertig werden«, schloss er. Aber was das ist, müssen wir noch herausfinden, fügte er im stillen hinzu.
Doch nichts konnte Ashlins verzweifelte Befürchtungen mindern. Mit einem letzten Blick auf die beiden Männer stürzte er sich auf den leuchtenden blauen Wall, als wollte er ihn mit bloßen Händen angreifen. Er stürmte los, bevor sie ihn aufhalten konnten, doch sein ungestümer Angriff fand ganz unvermittelt ein Ende. Noch bevor er sich auf Armeslänge der Barriere genähert hatte, wurde er von einer unsichtbaren Kraft gepackt und mit ungeheurer Wucht zurückgeschleudert. Er rutschte bis an das andere Ende der dunklen Kammer, wo er mit ausgestreckten Armen auf dem Steinfußboden liegen blieb. Ein paar Augenblicke lang war er bewusstlos. Als er wieder zu sich kam, hatte ihm der Schreck die Sprache verschlagen.
»Je schneller man sich ihr nähert, desto heftiger stößt sie einen zurück«, erklärte Paule. »Einer von unseren Leuten hat es versucht. Er sagte, es wäre, als liefe man gegen eine unsichtbare Wand.«
»Glaubst du uns jetzt, dass Gemma über Kräfte verfügt?« wollte Hewe wissen.
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