Die Träumerin von Ostende
zunächst aus einem Katalog erfuhr, sich näher darüber informierte und dessen Daten man dann, sofern man es auch wirklich wollte, auf einem Zettel notierte und bei einem Buchhändler, der diesen Namen verdiente, kaufte oder bestellte. Unter keinen Umständen aber suchte man sich ein Buch zwischen Würsten, Gemüse und Waschpulver aus.
»Traurige Zeiten …«, murmelte er.
Unbekümmert hüpfte Sylvie zwischen Stapeln und Tischen mit Büchern umher, als handelte es sich um Appetithäppchen. Mit einem Blick stellte Maurice fest, dass man natürlich nur Romane anbot, verdrehte die Augen nach Märtyrerart und wartete, dass Sylvie aufhörte, an diesem Umschlag zu schnüffeln, an jenem Band zu riechen, ihn in ihrer Hand abzuwiegen oder durchzublättern, wie um sich zu vergewissern, dass dem Salat auch nur kein Krümelchen Erde anhaftete.
Plötzlich stieß sie einen Schrei aus.
»Wow! Der neueste Chris Black!«
Maurice hatte keine Ahnung, wer dieser Chris Black war, der bei seiner Cousine einen halben Orgasmus auslöste, und würdigte den Band, den sie auf den Berg mit Lebensmitteln im Einkaufswagen warf, keines Blickes.
»Hast du noch nie einen Chris Black gelesen? Stimmt, du liest ja keine Romane. Aber ich sag’s dir, er ist Spitze. Den verschlingst du geradezu, jede Seite ein Hochgenuss, den legst du erst wieder aus der Hand, wenn du fertig damit bist.«
Maurice fiel auf, dass Sylvie von diesem Buch wie von etwas Essbarem redete.
»So gesehen gar keine schlechte Verkaufspolitik, Bücher zusammen mit Nahrungsmitteln anzubieten«, dachte er, »für diese Art von Kunden ist das ein und dasselbe.«
»Also, wenn du mir mal eine Freude machen willst, Maurice, dann lies irgendwann einen Chris Black.«
»Meine liebe Sylvie, um dir einen Gefallen zu tun, ertrage ich es, dass du mir von diesem Chris Black erzählst, von dem ich nicht die geringste Ahnung habe, und das heißt etwas. Aber erwarte bitte nicht, dass ich ihn lese.«
»Wirklich schade, du wirst sterben und weißt nicht, was dir entgangen ist.«
»Das glaube ich kaum. Und falls ich sterben sollte, dann bestimmt nicht deshalb.«
»Ah, du meinst also, ich hab einen schlechten Geschmack … Immerhin weiß ich, dass ich es nicht mit Marcel Proust zu tun habe, wenn ich Chris Black lese, so einfältig bin ich auch wieder nicht.«
»Wieso? Hast du je Marcel Proust gelesen?«
»Jetzt bist du aber gemein. Du weißt genau, dass ich, im Gegensatz zu dir, nie Proust gelesen habe.«
Mit einem Ausdruck von verletzter Würde lächelte Maurice wie eine heilige Blandina [2] der Kultur. Als spräche man ihm endlich etwas zu, das man ihm früher kleinlich vorenthalten hatte. Im Grunde genoss er es, dass sowohl seine Cousine als auch seine Schüler der festen Überzeugung waren, er habe Proust gelesen, was er nie versucht hatte, da er geradezu allergisch war gegen Romanliteratur. Sei’s drum. Er würde sie in ihrem Glauben lassen. Er hatte so viele andere Bücher gelesen … Kredit gewährt man schließlich nur den Reichen, oder?
»Maurice, ich weiß, dass ich kein Meisterwerk lese, aber es macht mir eben Spaß.«
»Du bist frei, du kannst tun und lassen, was du willst, das geht mich nichts an.«
»Glaub mir: Wenn du dich langweilst, Chris Black ist so großartig wie Dan West.«
Er gluckste, konnte nicht anders.
»Chris Black, Dan West … Selbst ihre Namen sind einfach gestrickt, zwei Silben, fast lautmalerisch, leicht zu behalten. Jeder kaugummikauende Idiot in Texas könnte sie mühelos wiederholen. Meinst du, das sind ihre richtigen Namen, oder haben sie die nur, um sich besser vermarkten zu lassen?«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will damit sagen, dass Chris Black oder Dan West oben auf einem Regal besser zu entziffern sind als Jules Michelet.«
Sylvie wollte gerade etwas entgegnen, als sie plötzlich einen spitzen Schrei ausstieß. Sie hatte einige Freundinnen entdeckt. Ihre Wurstfinger schüttelnd sprang sie auf die drei stattlichen Grazien zu, die ihr in nichts nachstanden.
Maurice machte ein missmutiges Gesicht. Sylvie würde ihm für eine gute halbe Stunde entwischen, ihrem Verständnis nach das Minimum für einen kurzen Plausch.
Er winkte Sylvies Freundinnen von ferne verhalten zu, womit er bedeutete, dass er ihrem improvisierten Kolloquium nicht beizuwohnen gedachte, und geduldete sich wohl oder übel. Die Ellbogen auf den Rand des Einkaufswagens gestützt, ließ er seinen Blick über dessen Inhalt gleiten, bis er am Umschlag von Sylvies
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