Die Triffids: Roman - Mit einem Vorwort von M. John Harrison (www.Boox.bz)
eingebüßt haben und dass die Gemeinschaften, die ihnen auch weiterhin blindlings folgen, ohne Rücksicht auf die veränderten Umstände, sich damit Schaden zufügen, ja vielleicht ihren Untergang einleiten.«
Die Zuhörer, die nicht wussten, worauf diese Einleitung abzielte, wurden unruhig. Am Radio hätten sie bei diesem Thema den Apparat sofort abgeschaltet. Hier fühlten sie sich in der Falle. Der Sprecher beschloss, noch deutlicher zu werden.
»Niemand«, fuhr er fort, »wird sich wundern, wenn er in einem vergessenen indischen Dorf, wo Not und Hunger herrschen, andere Lebensformen, Sitten und Gebräuche findet als etwa im Villenviertel einer modernen Großstadt. Ebenso wird sich die Bevölkerung eines heißen Landes, wo das Leben mühelos ist, von den Bewohnern dicht besiedelter Industriegebiete hinsichtlich ihrer obersten Tugenden und Leitsätze unterscheiden. Mit anderen Worten: veränderte Umwelt, veränderter Standard.
Ich erwähne das, weil die Welt, die wir gekannt haben, nicht mehr besteht – sie ist verschwunden.
Und mit ihr die Bedingungen und Voraussetzungen, auf die sich unsere Standards gründen. Da unsere Bedürfnisse andere geworden sind, müssen sich auch unsere Ziele ändern. Ein Beispiel. Wir alle haben heute mit vollkommen ruhigem Gewissen Dinge getan, die man vorgestern noch als Einbruch und Diebstahl bezeichnet hätte. Die alte Ordnung ist zerstört; unsere Aufgabe ist es nun, die für die neue Lage zweckmäßigste Lebensform zu finden. Nicht nur aufbauen müssen wir, sondern auch umdenken – was schwie riger ist und weitaus unangenehmer.
Der Mensch ist noch immer ungemein anpassungsfähig. Aber jede Gemeinschaft hat die Tendenz, die heranwachsende Generation nach bestimmten Formen zu modeln und sie mit dem Bindemittel ihrer Vorurteile zu festigen. Das Ergebnis ist ein Gebilde, das äußerst zäh ist und sich auch gegen den Andrang tief wurzelnder Neigungen und Triebe zu behaupten vermag. So entsteht der Held, der, allem Selbsterhaltungstrieb entgegen, sein Leben freiwillig einem Ideal opfert, so entsteht aber auch der selbstsichere Dummkopf, der immer ›recht‹ hat.
In Zukunft werden viele der uns anerzogenen Vorurteile fallen müssen. Ein fundamentales Vorurteil allerdings können und müssen wir aufrechterhalten: Die menschliche Gemeinschaft muss weiterleben. Diesem obersten Leitsatz hat sich, zumindest für einige Zeit, alles andere unterzuordnen. Wir müssen uns bei allem, was wir unternehmen, fragen: Ist es lebensfördernd oder lebenshemmend? Ist es fördernd, müssen wir es tun, gleichviel, ob es mit unseren gewohnten Vorstellungen übereinstimmt oder nicht. Ist es hemmend, müssen wir es vermeiden, auch wenn diese Unterlassung allen unseren alten Begriffen von Pflicht, ja selbst von Recht widerspricht.
Es wird nicht leicht sein; alte Vorurteile haben ein zähes Leben. Der Einfältige verlässt sich auf die bequeme Schutzwehr von Regeln und Vorschriften, ebenso der Unselbstständige und der Geistesträge – ja, wir alle vertrauen dieser Schutzwehr weit mehr, als wir wissen und ahnen. Aber nun, da alle Organisation fehlt, geben uns auch keine Tabellen mehr die richtigen Auskünfte. Wir müssen den moralischen Mut aufbringen, selbstständig zu denken und zu planen.«
Er blickte nachdenklich auf seine Zuhörerschaft. Nach einer Pause sagte er: »Eines muss Ihnen ganz klar sein, bevor Sie sich zum Beitritt zu unserer Gemeinschaft entschließen. Jeder von uns wird seinen Beitrag zur Bewältigung der gemeinsamen Aufgabe zu leisten haben. Die Männer müssen arbeiten – die Frauen müssen Kinder kriegen. Wer sich damit nicht einverstanden erklären kann, für den ist in unserer Gemeinschaft kein Platz.«
Nach einer Pause, in der Totenstille herrschte, fügte er hinzu: »Eine beschränkte Anzahl Frauen, die das Augenlicht verloren haben, können wir miterhalten, denn sie werden Babys haben, die sehen können. Wir können es uns nicht leisten, Männer zu versorgen, die nicht sehen können. In unserer neuen Welt also werden Babys viel wichtiger sein als Ehemänner.«
Nachdem er aufgehört hatte zu reden, blieb es einige Augenblicke still, dann erhob sich vereinzeltes Gemurmel, aus dem bald ein allgemeines Summen wurde.
Ich sah Josella an. Zu meinem Erstaunen schmunzelte sie spitzbübisch.
»Was kommt dir hier komisch vor?«, fragte ich etwas kurz.
»Die Gesichter der Leute vor allem«, erwiderte sie.
Das war ein Grund, den ich gelten lassen musste. Ich schaute im Saal umher
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