Die Trolle
gewesen, ohne dass ich es gewusst habe?, fiel es Viçinia plötzlich ein, und ein scharfer Schmerz durchfuhr ihre Brust.
Bitte, tu nicht so, als ob du mich nie wieder sehen würdest. Das waren ihre Worte an ihn gewesen, und er hatte ihr versprochen, dass es nicht so sein würde.
Sie hatte Sten cal Dabrân immer gemocht, seit ihrer Jugend waren sie befreundet, hatten für die gleiche Sache gekämpft. Doch was immer sie ansonsten für den jungen Krieger empfinden mochte, darüber war sie sich nicht im Klaren gewesen, und sie hatte ihre eigenen Gefühle nicht genauer erforschen wollen, aus Angst vielleicht, was am Ende stehen könnte. Zumindest war es an jenem Morgen in Désa so gewesen, als sie sich von Sten verabschiedet hatte. Und nun würde sie ihn tatsächlich nie wieder sehen.
Dann spürte sie, wie die Trauer ihr die Kehle zuschnürte und ihr Tränen in die Augen stiegen.
Bei Einbruch der Nacht kehrte Mirela wieder zurück und begann damit, das Zimmer aufzuräumen, wobei sie Viçinia immer wieder vorsichtige Blicke zuwarf. Diese jedoch saß immer noch mit versteinertem Gesicht auf ihrem Bett, dachte nach und würdigte die Dienerin keines Blickes. Im Augenblick war Mirela nur ein Stein auf ihrem Weg, den die Wlachakin umgehen oder beseitigen musste. Also ließ sie sich schnell entkleiden, schlüpfte unter ihre Decke und löschte die kleine Kerze. Im Dunkeln lauschte sie, wie die Zofe die Kohlepfanne befüllte und sich dann selbst auf ihr Lager begab und nach einiger Zeit ruhig atmete.
Viçinia aber blieb noch lange mit offenen Augen in der Finsternis liegen und wartete ab. Es war keine Frage, dass Zorpad annehmen musste, sie werde in nächster Zeit womöglich etwas unternehmen, und dass er deshalb seine Untergebenen angewiesen hatte, ein besonders wachsames Auge auf seine wichtigste Geisel zu werfen. Aber der Masride und seine Diener hielten sie für eine verwöhnte Edeldame, ein Irrglaube, den Viçinia auszunutzen gedachte.
Erst als sie vollkommen sicher war, dass Mirela schlief, glitt sie aus dem Bett und schlich zum Fenster. Unendlich langsam, um keinen unnötigen Lärm zu verursachen, hob sie die Pergamenthaut aus dem Rahmen und öffnete die Läden. Der Weg durch den Flur war ihr verwehrt, denn dort würde mindestens eine Wache postiert sein, aber Viçinia war im Mardew aufgewachsen, zwischen majestätischen Bergzügen und tiefen Wäldern, und seit frühester Kindheit ans Klettern gewöhnt.
Trotzdem ließ der Blick hinunter auf den Hof der Burg sie frösteln, oder vielleicht war es auch nur die kühle Nachtluft, gegen die ihr langes Nachthemd nur einen notdürftigen Schutz bot.
Dabei erwies es sich als ein Glück, dass ihr Fenster in den kleinen Innenhof hinausging, denn die schlanke Birke, die dort stand, reichte bis zu ihrem Stockwerk hinauf. Mit einem beherzten Sprung von ihrem Sims aus würde Viçinia den Baum erreichen können. Die Zimmer der anderen Geiseln lagen zum größten Teil im unteren Geschoss, nur Viçinia hatte aufgrund ihres Status ein höher gelegenes Gemach zugewiesen bekommen.
Ohne groß nachzudenken, stieß sich Viçinia ab und griff nach den dünnen Ästen, die ihr ins Gesicht peitschten. Einen furchtbaren Herzschlag lang griffen ihre Hände ins Leere, doch schließlich bekam sie einen etwas dickeren Ast zu packen, an dem sie sich festklammerte und der ihr Gewicht trug. Vorsichtig machte sie sich an den Abstieg, bis sie mit ihren nackten Füßen auf dem kühlen Grasboden des Hofes stand. Ein kurzes, atemloses Lauschen, dann huschte sie zu einem der Fenster des Erdgeschosses und klopfte an die schwarz-rot bemalten Läden. Es dauerte, bis ein verschlafener junger Mann den Laden vorsichtig nach außen klappte. Viçinia sandte ein kurzes Stoßgebet aus, dankbar dafür, dass es nicht der Diener des Mannes war, den sie suchte.
Hinter dem Fensterladen war das Fenster mit einem schmiedeeisernen Gitter versehen, denn aus dem untersten Geschoss wäre es ein Leichtes gewesen, hinauszuklettern. Als der bleiche, dunkelhaarige Mann Viçinia erkannte, weiteten sich seine Augen vor Erstaunen.
»Dame Viçinia! Was macht Ihr hier?«, fragte er, doch Viçinia bedeutete ihm mit einem Finger an den Lippen, leise zu sein.
»Suhai, ich benötige Eure Hilfe.«
»Meine Hilfe? Mitten in der Nacht? Wobei denn?«
»Ich muss jemanden benachrichtigen. Es gibt Neuigkeiten, die weitergegeben werden müssen«, erklärte ihm Viçinia flüsternd.
»Neuigkeiten? Ich verstehe nicht ganz«, erwiderte Suhai
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