Die Tuchhändlerin: Liebesroman aus der Zeit der Weberaufstände (German Edition)
fügte hinzu: „Normalerweise. Aber Balthasar verzählt sich viel zu oft.“
„Danke auch!“
„Die ausgezählten Fäden werden durch den Zugfaden zu einem Schnurbündel, dem Latz, verknotet und mit einem Hornring versehen.“ Er stippte Luisas Armband an.
Luisa war ganz vertieft in Caspars Erklärungen.
„Wenn das Muster also eingelesen ist, wenn alle Schnurbündel aufgefädelt sind, werden sie nacheinander mit der Zugschnur straff gezogen. So ...“ Auf diesen Deut zog Balthasar das Schnurbündel wieder kräftig an und Caspar erklärte weiter, obschon er nicht den Eindruck hatte, dass Luisa irgendetwas verstand: „So weit erst mal klar?“
„Tja, Caspar, ich schätze, ich habe den Faden verloren.“
Caspar seufzte, beugte sich nach vorn und zog sich die Schuhe und die Wollsocken aus, weil die Pedale für ihn viel zu eng zusammenstanden und er keinen Trittfehler riskieren konnte. Dann packte er die Schussvorrichtung mit der Linken und die Lade mit der Rechten. Luisa schob sich in die äußerste Ecke der Webbank, während Caspar das nächste Fußpedal trat. Er musste das Schnurbündel zu Ende weben, damit Balthasar endlich erlöst war. Jedes Bündel bekam vier Schuss. Es ging so schnell und kostete ihn trotzdem jene Konzentration, unter der er Luisas Anwesenheit beinahe vergaß. Drei weitere Male schleuderte er den Schussschützen hin und her, drei weitere Male wechselte er die Pedale unter dem Webstuhl, dann ließ sein Bruder den Zugstab sinken, band um das Schnurbündel einen Hornring und legte es ab. Das nächste Bündel war dran und immer so weiter, bis sie sechzehntausend dieser Bündel gezogen und viermal so viele Schüsse gesetzt haben würden. Innerhalb von achtzehn Tagen.
Balthasar fischte aus der über ihm baumelnden Vorrichtung den nächsten Hornring mit der daran befestigten Zugschnur und dem dazugehörigen Schnurbündel. Caspar wartete, bis Balthasar die Fäden weit genug aus dem Webbett gehoben hatte, dann zeigte er Luisa wieder, welche Pedale sie treten musste und wie sie den Schützen zu schleudern hatte. Er passte ganz genau auf, damit sie es richtig machte. Er wollte nicht gleich den ersten Zoll des Tuches mit einem Webfehler beginnen. Bald hatten sie jenen Rhythmus für ihre Arbeit gefunden, der sie zu dem besten Webergespann des Dorfes machte und die beste Ware desselben herstellen ließ.
„Siehst du, fertig ist der erste Zoll.“
Caspar drehte sich zu dem Fensterbrett um und angelte nach dem Fadenzähler. „Fräulein Expediteurin?“ Er reichte Luisa die Lupe. Luisa beugte sich vor und untersuchte das schmale Bändchen von einer halben Würfelkante, das sie gewebt hatten. Sie lächelte, als er sich nach vorn neigte und ihren Hals küsste.
Als Luisa das nächste Mal zu Caspar kam, lag der Schnee schon bis knapp unters Knie. Die Weber waren wieder am Schneeschippen, nur Caspar nicht, der webte ihr Tuch – zumindest sollte er das tun. Es waren endlose Tage vergangen, in denen Luisa nicht hatte herkommen können, und jetzt stellte sie fest, dass seit ihrem gemeinsamen Anfang am Tuch nichts weiter geschafft worden war. Das beunruhigte sie. Sie sagte nichts, denn die Stimmung im Hause Weber war gespenstisch. Was war hier los?
Die Mädchen verließen auf ein Wort von Caspar die Stube, lediglich Balthasar blieb. Agnes schenkte Luisa einen wütenden Blick und schlug lautstark die Tür zu.
„Ich glaube, Agnes kann mich nicht leiden“, meinte Luisa, nachdem sie Mantel, Hut und Handschuhe abgelegt hatte.
„Agnes kann niemanden leiden“, knirschte Caspar hervor, der halb unter dem Zampelstuhl lag und mit einer Art Kamm das mit Schilfrohr bespannte Blatt von Leinenfasern befreite. Die Fusseln streifte er an einem Lumpen ab.
„Niemanden außer Clemens“, lenkte Balthasar ein. Er sah seinem Bruder auf die Finger.
„Clemens? Euer Bruder, nicht wahr? Den kenne ich nicht.“
„Clemens war bei der Nationalgarde“, sagte Balthasar.
„Wieso war?“
„Die Garde wird aufgelöst und es wird eine neue Armee gegründet – wegen der Unruhen“, erklärte Balthasar.
„Hol ihn der Henker!“, schimpfte die Stimme unter dem Webstuhl. Kurz darauf erhob sich Caspar, setzte sich auf die Webbank und fuhr oben mit dem Entfusseln fort. Luisa und Balthasar starrten Caspar gleichermaßen erstaunt an, eine steile Längsfalte auf seiner Nasenwurzel.
„Was ist los bei euch?“ Luisa schaute von einem zum anderen, aber die Brüder wechselten nur vielsagende Blicke und schwiegen.
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