Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
Begebenheit, deren Unglaublichkeit sie schockierte oder in irgendeiner Weise fesselte. Sie trug ein pechschwarzes Kleid, das besser zu einer Beerdigung als hierher gepaßt hätte und das Ali aus ihrem früheren Kleiderfundus nicht kannte.
Im Laufe ihrer gemeinsamen Zeit hatte er hin und wieder bemerkt - in seinen »lichten Momenten«, wie er mit heimlicher Scham konstatierte -, wie sich das zunehmende Alter peu à peu in ihrer Erscheinung zeigte. Aber nun, ein knappes Jahr nach ihrer Trennung, stellte er fest, daß sie tatsächlich gealtert war. Schwere Tränensäcke hingen unter ihren dunklen Augen wie nachträglich angefügte Fremdkörper. Tiefe Furchen hatten sich in dieses Gesicht gegraben, die man mit Make-up sicher hätte kaschieren können, was aber nur bewies, daß der Begriff »kaschieren« für ihr Aussehen künftig eine essentielle Rolle spielen mußte. Sie war immer noch schlank, doch Ali bemerkte an ihren Beinen erstmals die Verästelungen von zahlreichen Krampfadern. Außerdem schien ihm, als wären ihre Brüste flacher als früher. Natürlich war sie immer noch die Frau, die er damals im Kopiershop angeschmachtet hatte, und so manch ein Mann in seinem Alter wäre froh, würde seine Frau mit Vierzig noch so aussehen wie Ida. Dennoch, so kam es ihm mit einem Mal vor, hatte das Alter aus Ida in den wenigen Monaten, in denen sie sich fremd geworden waren, eine traurige Kopie ihrer selbst gemacht.
Ali fragte sich, ob er noch mit ihr schlafen könnte. Diese Frage schien irgendwie eminent - nachdem er die fünfzehnjährige Florence gefickt hatte.
Er hatte sich auch getäuscht, was ihre Wohnsituation betraf. Zu jener Zeit, als sie sich gerade kennengelernt hatten, hatte er oft in ihrer kleinen Dachkammer übernachtet, in die sie dann später endgültig zusammengezogen waren. Er hatte sich in diesem Raum immer wie in einem Refugium gefühlt. Obwohl darin alle Gegenstände vom Sperrmüll stammten oder selbstgebastelt waren, hätten sie kaum mehr Reichtum ausstrahlen können. Abgenutzte Sessel und Matratzen waren mit selbstgenähten Überzügen aus bunten Stoffen verkleidet. Pastellfarbene Tüllschals bedeckten die fleckigen Wände. Als Lampenschirme dienten Papiertüten, in die raffinierte Arabesken geschnitten waren. Und das warme Licht beschien Dutzende in kleine Rahmen gefaßte Familien- und Kindheitsfotos und kuriose Fundsachen aus Zeitschriften, die überall herumstanden.
Etwas unsagbar Warmes nistete an diesem Ort wie ein guter Geist. Und wenngleich Idas Geschmack sich in Sachen Interieur während der Jahre eklatant verändert hatte, um nicht zu sagen verteuert, hatte er in seiner Nostalgieversessenheit angenommen, daß sie nach der Trennung zu der handgemachten Gemütlichkeit ihrer Jugendtage zurückgekehrt wäre. Das war nicht der Fall.
Jetzt, da er zum ersten Mal in ihrer Wohnung war, erkannte er voll Entsetzen, daß Ida jeglichen Einrichtungs geschmack hatte fahren lassen. Behaglichkeit schien sie nicht mehr zu interessieren. Und das lag nicht allein an der Enge der Wohnung. Der teure, aus dem Traumhaus gerettete Shaker-Tisch und ein paar der Ligne-Roset-Stühle standen so verloren herum wie in einem Sperrmüll-Lager. Ansonsten gab es hier nur das Allernötigste: ein Sofa, Regale, ein Zweiplattenherd und ein unbeschreiblich häßliches Bett aus dem Discountmarkt. Nirgendwo war eine Fotografie von Patrick zu sehen. Über allem lag ein Schleier der Trostlosigkeit. Das rührte nicht von Geldmangel her, sondern von der bitteren Einsicht, daß es keinen Sinn hatte, sich irgendwo langfristig einzurichten. Es gab kein Zuhause mehr in dieser Welt, nur noch Möbel von Designern, die gerade en vogue waren.
Noch etwas verstörte Ali. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Er glaubte immer wieder einen üblen Geruch wahrzunehmen, einen aufdringlichen Mief vergleichbar mit etwa dem, der aus modernden Kellern aufstieg oder in alten unbewohnten Häusern anzutreffen war. Allerdings mit einer süßlichen Note, der den Geruch noch weit unangenehmer machte und ihn an etwas erinnerte, was er irgendwo in seinen Hirnwindungen gespeichert haben mußte, nun jedoch partout nicht zu benennen wußte.
Der an- und abschwellende Gestank zusammen mit Idas vernachlässigter Erscheinung und dem deprimierenden Zustand der Wohnung irritierte Ali. Denn es machte seine bisherige Annahme, sie erhole sich allmählich von ihrem Schmerz und beginne ein neues Leben, zur Illusion. Ungeachtet seiner
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