Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
aufgelöst, die wie auseinandergepustete Daunenfedern aussahen, und die Sonne war herausgekommen und beschien jetzt die Stadt mit dem scharfen Mittagslicht des Vorfrühlings. Schweigend überlegte ein jeder für sich, ob es damals auch so gewesen war. Ob damals, als sie in ihr Traumhaus eingezogen waren, dasselbe Wetterchaos geherrscht hatte wie heute.
Was den grauen Morgen betraf, so mochte es wohl stimmen. Doch daß ein Morgen in einer mitteleuropäischen Stadt im März grau in grau begann, war wohl kaum außergewöhnlich und besaß nicht gerade großen Wiedererkennungswert. Und später, hatte an jenem Mittag die Sonne auch so offen ihr Gesicht gezeigt? Obwohl sie sich darüber wortlos berieten, kamen sie beide zu dem Urteil, daß es so gewesen sein könnte. Ein Jahrzehnt lag das nun zurück, und dieser eine bestimmte Tag hatte in ihr Gedächtnis solch ein tiefes Glücksgefühl eingebrannt, daß er wohl bis in alle Ewigkeit von Sonnenstrahlen erhellt sein würde. Dennoch erinnerten sie sich an wirkliche Sonnenstrahlen, an lange Lichtbahnen auf dem alten Pitch-Pine-Dielenboden, als sie das ganze leere Haus abgingen, um die passenden Stellen für ihre wenigen Möbel auszusuchen. Und sie erinnerten sich an Ausblicke in den sonnendurchfluteten Garten, während sie in der Küche das in Zeitungspapier eingewickelte Geschirr aus den Kartons nahmen.
Parallelen ... Aber es gab immer Parallelen. Denn die Welt änderte sich ja in Wahrheit gar nicht. Es kamen immer neue Menschen auf die Welt, es entstanden neue Häuser, es wurden neue Erfindungen gemacht, es kamen neue Moden auf, alles bekam immer wieder einen neuen Anstrich. Doch die Welt änderte sich nicht. Die Zeit änderte sich nur. Sie verging.
Alfred Seichtem wußte nicht, ob seine neben ihm laufende Exfrau mit ähnlichen Gedanken beschäftigt war, als sie endlich den alten Stadtteil erreichten. Obwohl Ida die gesamte Streck e hindurch ein grimmiges Warum- lasse-ich-mich-auf-die sen-Schwachsinn-überhaupt-ein!- Gesicht aufgesetzt hatte, glaubte er doch, daß sie insgeheim denselben Fragen nachgegangen war. Das war ein gewisser Vorteil, wenn man so lange Zeit mit einem anderen Menschen zusammengelebt hatte: Zu neunzig Prozent dachte der andere stets dasselbe wie man selber. Nachteil: Der andere tat es auch noch, wenn man es gar nicht mehr wollte.
Nachdem sie in einem fadenscheinigen Trenchcoat ihre Wohnung verlassen hatte, benahm sich Ida wie jemand, der auf sich selbst wütend ist, weil er eine schlechte Angewohnheit einfach nicht ablegen kann. Die schlechte Angewohnheit war in diesem Falle Ali, und daß sie sich trotz Scheidung weiterhin um sein angeschlagenes Seelenheil kümmerte, machte aus ihr eine schlechtgelaunte Krankenschwester. »Ich begleite dich dorthin, nicht weil ich ein Wunder erwarte, sondern weil ich dich davon überzeugen will, daß es keine Wunder gibt«, erklärte sie. Aber Ali glaubte ihr nicht so ganz. In Wahrheit schien sie von der Geschichte, die er erzählt hatte, mehr verstört worden zu sein, als sie es sich selbst eingestehen wollte. Ihre desinteressierte Miene und ihre Erklärungsversuche waren entweder bloßes Theater gewesen oder ein Schutzwall, um vom Blick in die für immer verlorengegangene glückliche Vergangenheit nicht völlig aus der Bahn geworfen zu werden. Offensichtlich jedoch hatte sie es sich im letzten Moment anders überlegt. Wer weiß, vielleicht freute sie sich heimlich sogar auf die Begegnung mit - damals.
Um so trauriger war es, daß er sie enttäuschen würde. Denn Ali spürte nun allmählich, daß eine Wiederholung des morgendlichen Wunders in der Tat ausbleiben würde. Dieses Gefühl gründete sich nicht allein auf die Furcht vor dem Vorführeffekt. Nein, mittlerweile schien ihm sein Erlebnis derart irreal, ja so weit weg, daß er sich schon selbst eine W arum-lasse-ich-mich-auf-diesen- Schwachsinn-überhaupt-ein!-Miene aufgesetzt hatte. Schade, wäre eigentlich eine tolle Sache gewesen, dachte er und grinste freudlos in sich hinein.
Das grelle Sonnenlicht hatte die Seitenstraße, in der er noch vor ein paar Stunden die unheimlichste Begegnung seines Lebens gehabt ha tte, in die hübsche Anno-Tobak- Kulisse für Rentner in vollklimatisierten Sightseeing- Bussen verwandelt. Die alten Gründerzeitfassaden strahlten in satten Farben. Die putzigen Erker, die kunstvollen Rosenfenster und die mächtigen Eingangspavillons schienen sich in ihrem Sonntagsstaat zu zeigen. Ali und Ida näherten sich auf der Parallelstraße
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