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Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Titel: Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Akif Pirincci
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je länger er die Mumie anstarrte. Es war unmöglich, aus dieser Distanz festzustellen, ob sich Hardys Brustkorb hob und senkte, ob er noch atmete. Allein die zuckenden Linien und Kurven und die sich sekündlich verändernden Diagramme auf den Monitoren der Überlebensapparaturen und die leisen Piepser daraus zeugten davon, daß in ihm noch irgendeine Art von Leben schlummerte. Das Neonlicht machte aus dem Raum ein Zwischenreich, ein steriles Tableau aus Chrom und kalt funktionierender Elektronik, eine saubere, nüchterne Sache, bei der Gefühle keinen Platz hatten. Und doch brach ein gewaltiges Gefühl wie ein heißer Strahl in Alis Bewußtsein: das Bewußtsein eines absoluten Endpunktes - ohne Aussicht auf Wiederkehr oder eine zweite Chance. »Das Leben geht weiter!« Von wegen. Für Hardy würde es nicht mehr weitergehen und für ihn selbst irgendwann auch nicht. Das waren die Tatsachen. Plötzlich erkannte er, welch eine herzlähmende Angst er vor dem Tod hatte, obwohl sein Publikum ihn wegen seiner Totenportraits für ziemlich abgebrüht halten mußte. Es ahnte ja nicht, daß die Todesangst seit er denken konnte das Leitmotiv seines Lebens gewesen war. Bei den Bildern mit den kaputten Gegenständen hatte es sich um eine erste Form der Verarbeitung dieser alles beherrschenden Angst gehandelt. Und mit den Totenbildern hatte er begonnen, als die Angst übermächtig wurde, ihm die Luft zum Atmen nahm. Das erkannte er jetzt. Es ging hier nicht um eine harmlose Neurose - die Todesangst war sein eigentlicher Kern, das, was ihn schon immer ausgemacht hatte. Und er glaubte spüren zu können, daß dies bei allen anderen auch der Fall war und daß sie mit Sprüchen wie »Ich habe keine Angst vor dem Tod, sondern vor dem Sterben« oder »Der Tod ist ein natürlicher Teil des Lebens« nur sich selbst beruhigen und nebenbei eine fadenscheinige Weisheit zum Ausdruck bringen wollten.
    Ali begriff, daß er nicht einmal in der Lage war, seinem Saufkumpan auch nur im Geiste Trost zu spenden . Das Ganze war von Anfang an eine idiotische Idee gewesen. Er hätte sich von Ida niemals zu diesem Besuch zwingen lassen dürfen. Er machte kehrt und wollte den Kontrollraum so schnell wie möglich verlassen …
    … Doch war da nicht diese eine kleine Bewegung gewesen? ...
    Bevor er sich von der Scheibe abwandte, hatte er im letzten Moment aus dem linken Augenwinkel eine Bewegung an Hardys neonbeschienener Bettdecke wahrgenommen. Oder es sich eingebildet. Egal. Er würde jedenfalls unter keinen Umständen jetzt innehalten und einen Blick zurückwerfen. Er wollte dieses Fleisch gewordene Symbol seiner eigenen Angst nicht mehr sehen, mehr noch, er wollte es komplett aus dem Gedächtnis streichen, am effektivsten unter Zuhilfenahme einer ausreichenden Menge Alkohols, sobald er draußen die erstbeste Kneipe angesteuert hatte. Er ging zaghaften Schrittes weiter zur Tür, doch seine Beine schienen ihm nicht gehorchen zu wollen. Sie ignorierten die Befehlsimpulse aus seinem Gehirn, weil sie an deren Ernsthaftigkeit zweifelten. Ali wurde langsamer, machte schließlich halt, stand reglos da. Dann riß er sich herum und eilte zur Trennscheibe zurück.
    Die Decke bewegte sich tatsächlich. Da, wo sich Hardys Arm verbarg, regte sich etwas, zunächst kaum wahrnehmbar, dann jedoch immer deutlicher. Ali schaute kurz zum bandagierten Kopf auf, aber dieser rührte sich nicht, sondern ruhte, am Sauerstoffschlauch wie an einem obszönen Blasinstrument hängend, ganz still auf dem Kissen. Nun plötzlich kam an der Längsseite der Bettdecke Hardys Hand zum Vorschein, sie glitt heraus wie eine bedächtige Schlange. Eine Kanüle steckte im Fleisch, verbunden mit einem sehr dünnen, eine rosa Flüssigkeit transportierenden Schlauch. Dann krümmten sich die Finger, und die Hand begann hochzufahren. Ali vermutete im ersten Augenblick, daß er das Opfer eines aufwendigen Aprilscherzes geworden sei. Hardys Unfall oder Selbstmord, die Berichterstattung darüber, diese ganze Intensivstationinszenierung, alles schien nur ein schlechter Scherz gewesen zu sein. Denn er glaubte, daß ihm sein ehemaliger Saufkumpan das Fuck - you -Zeichen entgegenstreckte. Gleich würde er vom Bett hochfahren, sich die Binde vom Kopf reißen und ihn brüllend auslachen. Trotzdem wollte keine humorige Stimmung in ihm aufkommen, im Gegenteil, ihm wurde immer gespenstischer zumute, und er bekam eine Gänsehaut. Er bemerkte nämlich allmählich, daß aus Hardys zur Faust geformten Hand eben

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