Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
Motiv: Säuferwahn oder Säuferblues oder was auch immer. Der Vorfall hatte zu jener Zeit für einiges Aufsehen gesorgt, weil die Todesart so kurios gewesen war. Ein paar Fernsehkanäle hatten sogar darüber berichtet. Aber das Kurioseste daran: Ali hatte es vollkommen vergessen. Ja, es klang absurd, doch Ali konnte sich nun beim besten Willen nicht mehr erinnern, wie der Scheißkerl genau ins Gras gebissen hatte. Von einer wieder mal durchzechten Nacht war damals die Rede gewesen, das wußte Ali noch, nach der Hardy allein den Heimweg angetreten hatte. Und dann ereignete sich diese merkwürdige Sache, die sogar lange Zeit für Schlagzeilen sorgte und an der der unberechenbare Bär schließlich starb. Laut Polizeibericht war eine Fremdeinwirkung ausgeschlossen. Entsprach das der Wahrheit? Nein, nicht ganz. Was den darauffolgenden Teil der Geschichte betraf, stand es mit Alis Erinnerungsvermögen nämlich hervorragend. Hardy Link war nicht gleich an Ort und Stelle gestorben. Er hatte in der Intensivstation noch eine kleine Ewigkeit im Koma gelegen, so lange, daß ihn die Außenwelt am Ende total vergaß. Vor allem und ziemlich schnell Ali. Und dann hatten sie ihn irgendwann »abgeschaltet«.
Nichtsdestotrotz hatte er ihn vorher im Krankenhaus besuchen müssen. Müssen , denn ausgerechnet Ida, die Hardy wegen ihrer häufigen gemeinsamen Saufgelage immer verflucht hatte, drängte ihn dazu. Ein Freund im Koma war schließlich immer noch ein Freund, so ihre Betrachtungsweise, obwohl er das ein bißchen anders sah. So machte er sich nach der x-ten Ermahnung auf den Weg zum Krankenhaus, und sogar vor dem Eingang rang er noch eine halbe Stunde lang mit sich selbst, ob er diesen Gang überhaupt antreten sollte. Was nützte es einem Komapatienten, wenn man neben ihm stand und ihm im Geiste Trost zusprach? Hardy hätte sich über den Besuch allenfalls gefreut, wenn Ali in seine Infusionsflasche einen halben Liter Rum eingeschenkt hätte.
Als er schließlich in Erfahrung gebracht hatte, wo Hardy lag, wurde ihm gesagt, daß er die Intensivstation selbst nicht betreten durfte. Er konnte das ganze Elend seines Freundes in diesem schneeweißen Bett lediglich hinter einer breiten Trennscheibe aus dem Stationszimmer heraus in Augenschein nehmen. Man ließ ihn kurz allein, und er sah sich mit dem schockierendsten Anblick seines Lebens konfrontiert. Aus Hardy war eine Mumie geworden! Der gesamte Kopf war in Verbände eingewickelt, was so aussah, als sei er eine in Klopapier eingepackte Wassermelone. Enge Schlitze ließen die geschlossenen Augenlider nur erahnen. Aus dem Mundbereich wuchs ein dicker, geriffelter Sauerstoffschlauch deckenwärts, der den Eindruck vermittelte, als hinge der ganze Hardy daran wie ein Riesenbaby an einer Nuckelflasche. Überhaupt führten diverse Schläuche unterschiedlicher Durchmesser in seinen unter der Decke verborgenen Körper: Katheter, Infusionsschläuche, Drainagen, die seinen Körper am Leben hielten. Ein Heer von Instrumenten mit blinkenden Signallampen umlagerten ihn, Monitore, die Herzstrom- und Atmungsfrequenzkurven aufzeigten, Dauerbeatmungsgeräte und elektronische Apparate zur Regelung der Infusionszufuhr. Das alles wirkte so, als wäre Hardy der Hauptdarsteller in einem Stück, dessen Zuschauer ausschließlich Roboter waren.
Gewiß, solcherlei morbide Betrachtungen waren für Ali nichts Neues. Handelte es sich doch bei seinen »Modellen« stets um schrecklich entstellte Tote. Dennoch machte es einen gewaltigen Unterschied, ob der aus dem Leben Scheidende ein Fremder war oder ein Puzzleteil des eigenen Lebens, in diesem Falle sogar ein recht bedeutendes Puzzleteil. »Menschen sind letztlich auch nicht so viel anders als Staubsauger, irgendwann bekommen sie eine Delle und sind dann kaputt.« Diese einstige Erkenntnis stimmte eben nicht mehr, wenn man den Kaputten vorher gekannt hatte. Dann berührte seine Kaputtheit zutiefst, ängstigte sogar, und Ali wußte auch, warum. Wenn der Tod einen Fremden erwischte, so glich das dem Kanonendonner aus weiter, weiter Ferne. Man war beunruhigt, aber nicht erschreckt. Doch wenn der Tod einen Menschen traf, der einem nahestand, so rückte er auch physisch näher, drohte plötzlich, auch bei einem selber vorbeizuschauen. Das Entsetzen beim Anblick des vertrauten Sterbenden beruhte deshalb weniger auf Mitleid, als vielmehr auf einer sehr egoistischen Angst um das eigene Leben.
Ali spürte, wie sich eine schwarze Wolke immer schwerer auf seine Seele legte,
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