Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
verbarg sich ein Stückchen Glück. Weil man sich nämlich dabei immer vorstellte, wie es gewesen wäre, wenn alles ganz anders gekommen wäre, wenn man das Glück wirklich für sich gepachtet hätte. Irgendwie machte schon die Vorstellung vom Glück ein bißchen glücklich.
In diesem Moment wurde die Wohnungstür aufgerissen, und ein Paar betrat das Berliner Zimmer, das für eine Feier dieser Art etwas untypisch war. Ali und Ida trennten sich voneinander und wischten sich verstohlen die Tränen aus dem Gesicht. Gaston Beauville, der die neunjährige Florence auf seine Hüfte gestützt trug, kam verschmitzt lächelnd und mit einer Filterlosen in der Hand auf sie zu. Er trug wie üblich Schwarz. Genauer gesagt: einen schäbigen Anzug, der sich jeglichen Modetrends entzog und bei dem der Begriff klassisch auch nicht so recht weiterhelfen wollte. Wie üblich bedeckten Aschepartikel das Jackenrevers. Dafür wirkte das Mädchen um so strahlender und lebendiger. Sie war das Püppchen in Rosarot, in einem Püppchenkleid mit tausend Rüschen. Florence strahlte die Seichtems überschwenglich an. Sie waren von Anfang eine Ersatzfamilie für sie gewesen, vor allem Ida hatte für sie oft die Mutter gespielt, die sie nie gehabt hatte.
Ali senkte den Blick. Ihm schoß der Erinnerungsfilm durch den Kopf, der erst im Laufe der folgenden sechs Jahre entstehen würde. Darin würde aus dem kleinen Mädchen, das sich so gern von Onkel Ali die Biographien berühmter Maler erzählen ließ, allmählich ein unverschämt aufreizender Teenager. All ihre Ambitionen wie der Wunsch, eine ebenso grandiose Autorin wie ihre Lieblingsschriftstellerin Emily Bront ë zu werden, würden in dieser Zeit zusehends verkümmern und schließlich gänzlich aus ihren Zukunftsplänen verschwinden. Statt dessen würde sie zunehmend ihre weibliche Seite entdecken und es in Fragen der Mode sowie neuesten Make-up-Tricks zu wahrer Meisterschaft bringen. Partys und die Herz-Schmerz-Dramen, die sich dort abspielten, würden ihr Interesse erheblich mehr fesseln als Literatur und die Aussicht auf ein Studium im Ausland. Ihre Schulnoten würden darunter leiden, und die Träume ihres Vaters in bezug auf die Zukunft seines über alles geliebten Kindes würden zerschellen wie kostbare Vasen bei einem Bombardement.
Ali jedoch war damals nicht so weise gewesen wie im Zustand der klaren Analyse heute. Im Gegenteil, Florences schleichende Verwandlung vom kunstsinnigen Mädchen zur frühreifen Circe hatte ihn seinerzeit fasziniert. Aus Kindern werden Leute, hatte er gedacht, ohne die Verödung ihrer Begabungen zu erkennen. Und irgendwann war es zu viel der Faszination gewesen, als daß er der Versuchung hätte widerstehen können. Es hatte harmlos angefangen und sich unmerklich hochgeschaukelt. Die ganzjährig bauchfrei umherwandelnde Florence setzte sich weiterhin bei jeder Gelegenheit auf Onkel Alis Schoß, als sei sie immer noch das kleine Ding. Ihre Blicke wandelten sich von denen kindlicher Freude zusehends in solche unverhüllten Schmachtens. Sie warf sich vor ihm wie zufällig in Posen, welche eine verlockende Ahnung ihrer intimsten Körperstellen vermittelten. Und die Küsse, die sie ausgetauscht hatten, als sie noch eine kleine Prinzessin gewesen war, bekamen nun eine unmißverständlich andere Qualität.
Es passierte, als Gaston auf einer Geschäftsreise war und Florence aushilfsweise die Galerie beaufsichtigte. Er wußte nichts von seiner Abwesenheit und schaute kurz herein, um einige Details einer bevorstehenden Ausstellung abzustimmen. Und als sie sich gegenüberstanden, war beiden klar, daß es jetzt geschehen würde. Zu Beginn taten sie noch so, als wäre alles wie immer. Ein bißchen Konversation, bei der sie ihren Vater als den schlimmsten Diktator auf Erden anprangerte, weil er partout darauf beharrte, daß sie an den Disco- Wochenenden zur verabredeten Zeit zu Hause war. Dann Neckereien der verbalen Art: Sie zählte seine ersten weißen Haare und kam zu dem Schluß, daß sie für ihn vorsorglich einen Platz im Altersheim reservieren müsse. Danach gingen sie zu handgreiflichem Herumalbern über. Ali war anfänglich noch gehemmt, obwohl er gleichzeitig die Glut in sich aufsteigen spürte. Er wehrte ihre als kindliche Balgerei getarnten Umklammerungen halbherzig ab, doch sein Widerstand erlahmte rasch. Florence wollte es jetzt wissen und setzte ihm stärker zu. Plötzlich lagen sie sich in den Armen. Es schien weder eine gedankliche noch körperliche
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