Die Tuer im Schott
gefährliche Waffe. Können Sie mir Großens Kriminalistik reichen, Inspektor?«
Elliot öffnete seinen Aktenkoffer und nahm ein flaches, großformatiges Buch mit grauem Umschlag heraus.
»Hier«, sagte Dr. Fell und schlug den Band auf, »haben wir das umfassendste Lehrbuch der Kriminalistik, das je geschrieben wurde. * [* Criminal Investigation: A Practical Textbook for Magistrates, Police Officers, and Lawyers, Adapted from the System der Kriminalistik of Dr. Hans Groß, Professor of Criminology in the University of Prague, by John Adam, M. A., Barrister-at-Law, and j. Collyer Adam, Barrister-at-Law; edited Betty Norman Kendal, Assistant Commissioner, Criminal Investigation Dept., Metropolitan Police. (London, Sweet & Maxwell, 1934.)] Ich habe es gestern abend noch aus London kommen lassen, um darin nachzuschlagen. Sie finden eine ausführliche Beschreibung dieser Bleikugel auf den Seiten 249/50.
Die Zigeuner benutzen sie als Wurfgeschoß, und diese Kugel steckt auch hinter manchen ihrer geheimnisvollen, geradezu übernatürlichen Diebereien. Am anderen Ende der Kugel wird eine leichte, doch sehr kräftige Angelschnur befestigt. Die Kugel wird ausgeworfen, und in welchem Winkel sie das angepeilte Objekt auch trifft – einer der Haken wird immer fassen, wie ein Schiffsanker. Das Blei sorgt für das notwendige Gewicht zum Auswerfen, und mit der Leine läßt sich die Kugel samt Beute zurückholen. Ich lese Ihnen einmal vor, was Groß darüber sagt:
›Die Zigeuner, vor allem die Kinder, erwerben in der Wurftechnik ein bemerkenswertes Geschick. In allen Rassen vergnügen Kinder sich mit Steinewerfen, doch geht es in der Regel darum, sie so weit wie möglich zu schleudern. Nicht so ein junger Zigeuner; er sucht sich einen Vorrat von etwa nußgroßen Steinen zusammen und wählt dann in einem Abstand von zehn bis zwanzig Schritt ein Ziel aus, etwa einen größeren Stein, ein Stück Holz, ein altes Tuch, und darauf schleudert er dann seinen Vorrat von Wurfgeschossen … Das tut er stundenlang, und binnen kurzem erwirbt er eine solche Kunstfertigkeit in dieser Übung, daß er nichts mehr verfehlt, was größer ist als eine Hand. Wenn er es soweit gebracht hat, bekommt er seinen ersten Wurfhaken …
Die Lehrzeit des jungen Zigeuners ist vorüber, wenn er einen Lumpen treffen und zurückholen kann, der zwischen die Zweige eines Baumes gehängt wird, zwischen denen hindurch er seinen Haken werfen muß.‹
In einen Baum, nota bene! Auf diese Weise kann er mit bemerkenswertem Geschick Wäsche, Kleider und dergleichen stehlen, selbst durch vergitterte Fenster oder aus einem ummauerten Hof. Und Sie können sich vorstellen, welche gräßliche Wirkung ein solcher Wurfhaken tun wird, wenn er ihn als Waffe benutzt. Ein solcher Haken kann einem Mann die Kehle aufreißen, und dann holt der Werfer ihn an seiner Schnur zurück …«
Murray stieß eine Art Stöhnen aus. Burrows sagte nichts.
»Hmpf. Tja, nun haben wir ja von Molly Farnleighs geradezu verblüffendem Wurfgeschick gehört, einer Kunst, die sie bei den Zigeunern erlernt hatte. Miss Dane hat uns davon erzählt. Wir kennen ihr ungestümes Temperament und die Plötzlichkeit, mit der sie zuschlagen konnte.
Wo befand sich Molly Farnleigh denn nun zum Zeitpunkt des Mordes? Das brauche ich Ihnen kaum zu sagen: Sie stand auf dem Balkon ihres Schlafzimmers mit Blick auf den Teich. Alle Achtung, direkt über dem Teich; und ihr Schlafzimmer liegt, wie wir wissen, über dem Eßzimmer. Wie Welkyn im Raum unter ihr war auch sie nur sieben oder acht Meter vom Teich fort, und sie hatte noch einen erhöhten Standpunkt dazu. Zu weit oben, sagen Sie? Ganz und gar nicht. Knowles hier – was würden wir ohne all seine Hinweise tun, wie würden wir sie ohne ihn je an den Galgen bringen! – Knowles hat uns verraten, daß der neue Flügel ›ja kaum mehr als ein Puppenhaus‹ ist, und der Balkon dürfte höchstens drei Meter über dem Garten liegen.
Da hätten wir sie also im Dunkeln, ihr Mann steht am Teich, ihr hoher Standpunkt gibt ihrem Arm Kraft für den Wurf. Das Zimmer hinter ihr ist dunkel – das hat sie selbst gesagt. Die Zofe ist im Raum nebenan. Was brachte sie dazu, daß sie in dieser Sekunde die tödliche Entscheidung fällte? Flüsterte sie etwas, daß ihr Mann aufblickte? Oder kam sie überhaupt erst darauf, weil er ohnehin schon zu einem Stern aufblickte, den langen Hals gereckt?«
»Zu einem Stern?« flüsterte Madeline entsetzt.
»Ihrem Stern, Miss
Weitere Kostenlose Bücher