Die Tuer im Schott
ersten Jahren in Colorado lebte er in der ständigen Furcht, es könne sich herausstellen, daß mit seiner Geschichte etwas nicht stimmte, und man könne ihn dafür ins Gefängnis stecken. Die Handschrift hätte ein Indiz sein können, aber bei dem Schiffsunglück waren zwei seiner Finger beinahe zerquetscht worden, und er konnte keinen Stift mehr halten. Er hatte Angst, nach Hause zu schreiben – deswegen hat er es nie getan. Er hat sich sogar gefürchtet, zu einem Arzt zu gehen und zu fragen, ob er womöglich verrückt sei, denn er fürchtete, der Arzt könne ihn verraten.
Diese Ängste haben natürlich im Laufe der Zeit nachgelassen. Er überzeugte sich davon, daß er einfach Pech gehabt hatte, daß solche Dinge schon einmal vorkommen können und so weiter. Der Weltkrieg und all das folgten. Er konsultierte einen Spezialisten, der ihm nach langen psychologischen Tests versicherte, daß er wirklich John Farnleigh sei und sich darum keine Sorgen mehr zu machen brauche. Aber den Schrecken der Jugendjahre überwand er nie wirklich, und selbst als er glaubte, nun sei es überstanden, träumte er noch davon.
Dann begann alles wieder neu, als der arme Dudley starb und er Titel und Besitz erbte. Er mußte nach England kommen. Er hatte – wie soll ich das sagen? – ein wissenschaftliches Interesse daran. Er sagte sich, wenn er dorthin zurückkam, mußte er sich doch erinnern. Aber er erinnerte sich nicht. Sie alle wissen, wie er umherwanderte wie ein Geist, ein armer alter Geist, der nicht einmal mehr wußte, ob er nun überhaupt ein Gespenst war oder nicht. Sie wissen, wie reizbar er war. Er war gerne hier. Er liebte jeden Flecken und jeden Winkel dieser Gegend. Verstehen Sie mich nicht falsch – er hat nicht wirklich daran gezweifelt, daß er John Farnleigh war. Aber er wollte GEWISSHEIT .«
Madeline biß sich auf die Lippe.
Mit leuchtenden Augen ließ sie ihren nun recht harten Blick über die Zuschauer schweifen.
»Ich habe mit ihm geredet und immer wieder versucht, ihn zu beschwichtigen. Er solle nicht so verzweifelt darüber nachdenken, sagte ich, dann werde ihm vielleicht eher etwas einfallen. Ich habe es so eingerichtet, daß ich ihn an etwas erinnerte, und machte ihm weis, er selbst sei es, dem es eingefallen sei. Etwa ein Grammophon, das in der Ferne eine Melodie spielte, und ihm fiel wieder ein, daß wir als Kinder danach getanzt hatten. Manchmal waren es Kleinigkeiten im Haus. In der Bibliothek gibt es eine Art Schrank – ein Bücherregal, in die Fensterwand eingebaut –, aber in Wirklichkeit ist es eine Tür, durch die man hinaus in den Garten kann. Auch heute noch, wenn man eine Feder an der richtigen Stelle drückt. Ich habe ihn so lange dirigiert, bis er sie gefunden hatte. Nächtelang, sagte er mir, habe er danach gut schlafen können.
Doch immer weiter quälte ihn die Ungewißheit. Sollte er erfahren, daß er nicht John Farnleigh sei, werde es ihm nichts ausmachen, sagte er – wenn er es nur endlich mit Sicherheit wisse. Schließlich sei er kein grüner Junge mehr – er werde es schon mit Fassung aufnehmen; und nichts auf der Welt wünsche er sich mehr, als endlich die Wahrheit zu wissen.
Er fuhr nach London und konsultierte noch zwei weitere Ärzte, das weiß ich. Wie verzweifelt er war, das können Sie daran sehen, daß er sogar einen Mann aufsuchte, dessen Name seinerzeit in aller Munde war und von dem es hieß, er habe übersinnliche Kräfte – einen gewissen Ahriman, einen gräßlichen kleinen Kerl in der Half-Moon Street. Er ist mit einigen von uns dorthin gefahren, und wir taten so, als ließen wir uns die Zukunft weissagen und machten uns darüber lustig. Aber er erzählte diesem Wahrsager seine ganze Geschichte.
Immer noch zog er ruhelos durch die Gegend. ›Nun, wenigstens hüte ich das Erbe gut‹, sagte er immer, und das werden ihm alle bestätigen. Auch in der Kirche konnte man ihn oft finden; am meisten mochte er die Kirchenlieder, und manchmal, wenn sie ›Abide with Me‹ spielten – jedenfalls, wenn er an der Kirche vorüberkam, blickte er jedesmal empor, und dann stöhnte er: Könnte ich doch nur einmal …«
Madeline hielt inne.
Ihre Brust hob sich mit einem tiefen Seufzer. Ihr Blick war fest auf die vordersten Sitzreihen geheftet, und ihre Hände, die Armrücken auf den Stuhllehnen, hatte sie weit geöffnet. Sie schien in diesem Augenblick ganz Leidenschaft, ganz Geheimnis, tief wie Wurzeln und ebenso stark; und doch war sie ja nur eine Frau, die sich
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