Die Türme der Mitternacht
dabei helfen, den Rest der überlebenden Aiel zu bewahren und sie dann nach Hause bringen, wo sie hingehörten.
Außerhalb des Lagers ertönte ein Laut.
Aviendha öffnete die Augen und sprang auf, umarmte die Quelle. Ein Teil von ihr war erfreut, dass sie nun instinktiv nach der Einen Macht griff statt nach den Speeren, die nicht mehr da waren. Sie webte eine Lichtkugel.
In der Nähe stand eine Frau in der Dunkelheit. Sie trug die Tracht der Aiel. Nicht den Cadin’sor oder die Kleidung einer Weisen Frau, sondern ganz normale Sachen: ein dunkler Rock mit einer braunen Bluse und einem Schultertuch, das ergrauende Haar von einem Halstuch zurückgebunden. Sie war mittleren Alters und trug keine Waffen. Reglos stand sie da.
Aviendha spähte zur Seite. War das ein Hinterhalt? Oder war die Frau ein Geist? Eine der wandelnden Toten? Warum hatte sie ihr Näherkommen nicht gehört?
»Ich grüße Euch, Weise Frau«, sagte die Fremde und neigte den Kopf. »Darf ich Wasser mit Euch teilen? Ich komme von weit her und sah Euer Feuer.« Die Frau hatte faltige Haut und konnte nicht die Macht lenken - es kostete Aviendha keine Mühe, das zu spüren.
»Ich bin noch keine Weise Frau«, sagte Aviendha misstrauisch. »Ich bin auf meiner zweiten Reise nach Rhuidean.«
»Dann werdet Ihr bald große Ehre erlangen«, sagte die Frau. »Ich bin Nakomi. Ich verspreche, dass ich Euch nicht schaden will, Kind.«
Plötzlich kam sich Aviendha albern vor. Die Frau war ohne gezogene Waffen vorgetreten. Sie hatte Nakomi nicht gehört, weil sie von ihren Gedanken abgelenkt gewesen war. »Natürlich, bitte.«
»Danke«, sagte Nakomi, trat ans Licht und legte ihr Bündel neben das kleine Feuer. Sie schnalzte mit der Zunge, dann zog sie ein paar kleine Zweige aus ihrem Bündel, um das Feuer damit zu schüren. Sie holte einen Kessel für Tee hervor und sagte: »Dürfte ich etwas von dem Wasser haben?«
Aviendha holte ihren Wasserschlauch hervor. Eigentlich konnte sie keinen Tropfen erübrigen - bis nach Rhuidean waren es noch einige Tage -, aber es wäre eine Beleidigung, nicht auf die Bitte einzugehen, nachdem man angeboten hatte, den Schatten zu teilen.
Nakomi nahm den Schlauch und füllte den Kessel, den sie dann neben das Feuer stellte, damit er sich erhitzte. »Es ist ein unerwartetes Vergnügen«, sagte sie und kramte in ihrem Bündel herum, »jemanden zu treffen, der auf seinem Weg nach Rhuidean ist. Sagt, musstet Ihr eine lange Lehre absolvieren?«
»Zu lange«, erwiderte Aviendha. »Obwohl das hauptsächlich an meiner eigenen Sturheit lag.«
»Ah. Ihr macht den Eindruck einer Kriegerin, Kind. Sagt, gehört Ihr zu denen, die nach Westen aufbrachen? Die sich dem anschlossen, den man den Car’a’carn nennt?«
»Er ist der Car’a’carn«, sagte Aviendha.
»Ich habe nicht das Gegenteil behauptet«, meinte Nakomi und klang amüsiert. Sie holte ein paar Teeblätter und Kräuter hervor.
Nein. Das hatte sie nicht. Aviendha drehte ihren Panzerrücken, und ihr Magen knurrte. Sie würde auch ihre Mahlzeit mit Nakomi teilen müssen.
»Darf ich eine Frage stellen?«, fragte Nakomi. »Was haltet Ihr vom Car’a’carn?«
Ich liebe ihn, dachte Aviendha augenblicklich. Aber das konnte sie nicht sagen. »Ich glaube, er hat viel Ehre. Und auch wenn er nicht weiß, wie man sich richtig benimmt, lernt er doch.«
»Dann habt Ihr mit ihm Zeit verbracht?«
»Ein bisschen«, sagte Aviendha. Um dann hinzuzufügen, weil sie ehrlicher sein wollte: »Mehr als die meisten.«
»Er ist ein Feuchtländer«, sagte Nakomi nachdenklich. »Und der Car’a’carn. Sagt mir, sind die Feuchtlande so prächtig, wie so viele behaupten? Flüsse, die so breit sind, dass man das andere Ufer nicht sehen kann, Pflanzen, die sich so mit Wasser vollgesogen haben, dass sie platzen, wenn man drückt?«
»Die Feuchtlande sind nicht prächtig«, erwiderte Aviendha. »Sie sind gefährlich. Sie machen uns zu Schwächlingen.« Nakomi runzelte die Stirn.
Wer ist diese Frau? Es war nicht ungewöhnlich, in der Wüste reisende Aiel zu finden; selbst Kinder lernten sich zu beschützen. Aber hätte Nakomi nicht mit Freunden oder der Familie reisen sollen? Sie trug nicht die Kleidung einer Weisen Frau, aber da war etwas an ihr …
Nakomi rührte den Tee um, dann rückte sie Aviendhas Panzerrücken zurecht und platzierte ihn so über den Scheiten, dass er gleichmäßiger garte. Sie holte mehrere Tiefbodenwurzeln aus ihrem Bündel. Aviendhas Mutter hatte sie immer gekocht. Nakomi
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