Die Türme der Mitternacht
dich.«
»Etwas, das mich aus der Hauptstadt fortschafft, damit ich keine unglücklichen Schatten werfe.«
»Aber eine Pflicht, die wichtig ist, damit nicht der Eindruck entsteht, dass man dir das Gnadenbrot gewährt.« Elayne verzog das Gesicht. »Vielleicht können wir dir ja den Befehl über das westliche Viertel des Reiches geben. Die Berichte von dort gefallen mir gar nicht.«
»Die Zwei Flüsse?«, fragte Morgase. »Und Lord Perrin Aybara?«
Elayne nickte.
»Ein interessanter Mann, dieser Perrin«, sagte Morgase nachdenklich. »Ja, vielleicht könnte ich dort von Nutzen sein. Wir haben bereits so etwas wie eine Übereinkunft.«
Elayne sah sie fragend an.
»Er hat für meine sichere Rückkehr zu dir gesorgt«, sagte Morgase. »Er ist ein ehrlicher Mann - und ein ehrenhafter. Aber trotz seiner guten Absichten auch ein Rebell. Du wirst es nicht einfach haben, solltest du mit ihm in Streit geraten.«
»Das möchte ich auch lieber vermeiden«, sagte Elayne. Die für sie einfachste Lösung wäre es gewesen, ihn zu ergreifen und hinzurichten. Aber natürlich würde sie das nicht tun. Selbst wenn sie die Berichte so sehr in Wut versetzten, dass sie beinahe wünschte, es wäre möglich.
»Nun, wir werden anfangen, an einer Lösung zu arbeiten.« Morgase lächelte. »Es wird dir helfen, wenn du gehört hast, was ich erlebt habe. Ach, und Lini geht es gut. Ich weiß ja nicht, ob du dir um sie Sorgen gemacht hast.«
»Um ehrlich zu sein, habe ich das nicht«, sagte Elayne und verspürte einen Stich der Scham. »Anscheinend könnte nicht einmal der einstürzende Drachenberg Lini einen Schaden zufügen.«
Morgase lächelte, dann erzählte sie ihre Geschichte. Elayne hörte ehrfürchtig und mit nicht wenig Aufregung zu. Ihre Mutter lebte. Dem Licht sei Dank, in der letzten Zeit war so vieles falsch gelaufen, aber wenigstens das hatte ein gutes Ende genommen.
In der Nacht war das Dreifache Land friedlich und still. Die meisten Tiere waren bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang aktiv, wenn nicht gerade drückende Hitze oder klirrende Kälte herrschte.
Aviendha saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem kleinen Felsvorsprung und sah zu Rhuidean im Land der Jenn Aiel hinunter, dem Clan, den es nicht gab. Einst war Rhuidean in schützende Nebel gehüllt gewesen. Das war vor Rands Eintreffen gewesen. Er hatte die Stadt auf drei sehr wichtige, sehr beunruhigende Arten gebrochen.
Die erste war die einfachste. Rand hatte den Nebel verschwinden lassen. Die Stadt hatte ihre Kuppel wie ein Algai’d’siswai abgelegt, der sein Gesicht entschleierte. Sie wusste nicht, wie Rand diese Verwandlung bewirkt hatte; sie hatte ernste Zweifel, dass er das selbst wusste. Aber durch die Enthüllung der Stadt hatte er sie für alle Ewigkeit verändert.
Dann hatte Rand Rhuidean zum zweiten Mal gebrochen, indem er für Wasser gesorgt hatte. Neben der Stadt erstreckte sich ein großer See, und das durch die Wolkendecke gefilterte Mondlicht ließ die Fluten glänzen. Die Menschen nannten den See Tsodrelle’Aman. Die Tränen des Drachen. Obwohl man den See eigentlich die Tränen der Aiel hätte nennen sollen. Rand al’Thor hatte nicht die geringste Vorstellung gehabt, wie viele Qualen seine Enthüllungen verursachen würden. So war er eben. Oft handelte er voller Unschuld.
Aber die dritte Weise, auf die Rand die Stadt gebrochen hatte, war die mit den größten Konsequenzen. Das wurde Aviendha so langsam klar. Nakomis Worte bereiteten ihr große Sorgen. Sie hatten in ihr die Schatten von Erinnerungen geweckt, Dinge aus potenziellen Zukünften, die sie während ihres ersten Besuches in Rhuidean in den Ringen gesehen hatte, deren Einzelheiten ihr aber verwehrt blieben oder zumindest dem Versuch widerstanden, sich direkt daran zu erinnern.
Sie sorgte sich, dass Rhuidean sehr bald keine Rolle mehr spielen würde. Einst hatte die Stadt die wichtige Funktion gehabt, den Weisen Frauen und Clanhäuptlingen die geheime Vergangenheit ihres Volkes zu zeigen. Sie auf den Tag vorzubereiten, an dem sie dem Drachen dienen würden. Dieser Tag war eingetroffen. Wer würde Rhuidean nun besuchen? Die Anführer der Aiel nun durch die Glassäulen zu schicken würde sie nur an das Toh erinnern, das sie angefangen hatten zu erfüllen.
Das beunruhigte Aviendha so sehr, dass es förmlich ihre Haut jucken ließ. Sie wollte sich diesen Fragen nicht stellen. Sie wollte mit der Tradition fortfahren. Aber sie bekam sie einfach nicht aus dem Kopf.
Rand
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