Die Türme der Mitternacht
wickelte das Leder um einen dicken, ungefähr zwei Zoll breiten Holzstab, dann bohrte er Löcher in den Rand.
Danach nähte er das Leder an ein anderes Stück, das er bereits vorbereitet hatte. Eine ordentliche Naht an der Kante würde es am Ausfransen hindern. Viele Lederhandwerker nahmen es mit den Nähten nicht so genau. Androl war da anders. Die Nähte waren immer das Erste, das den Leuten auffiel; sie stachen hervor wie die Farbe an der Wand.
Während er arbeitete, trocknete das Leder und verlor etwas von seiner Geschmeidigkeit, aber es war immer noch beweglich genug. Er setzte die Stiche sauber und gleichmäßig. Er zog die letzten fest und benutzte sie, um das Leder um den Holzstab zu binden; er würde sie abschneiden, nachdem das Leder getrocknet war.
Da die Nähte nun fertig waren, fügte er ein paar Verzierungen hinzu. Oben drauf einen Namen, den er mit seinem kleinen Hammer und den Buchstabenstempeln anfertigte. Dann kamen die Symbole von Schwert und Drache; die Vorlagen hatte er selbst nach dem Vorbild der Anstecknadeln der Asha’man hergestellt.
Unten stempelte er mit den kleineren Werkzeugen die Worte »Verteidigen-Bewachen - Beschützen« ein. Während das Leder weiter trocknete, holte er Farben und Tuch, um Buchstaben und Zeichen sorgfältig zu kolorieren, damit sie einen deutlichen Kontrast bildeten.
Diese Arbeit brachte eine gewisse Beschaulichkeit mit sich; ein so großer Teil seines Lebens drehte sich in letzter Zeit allein um Zerstörung. Ihm war klar, dass das nicht anders möglich war. Er war hauptsächlich zur Schwarzen Burg gegangen, weil ihm völlig klar war, was da auf sie zukam. Trotzdem war es nett, auch einmal etwas Konstruktives zu tun.
Er legte das Werkteil beiseite, damit es trocknen konnte, und widmete sich in der Zwischenzeit ein paar Sattelriemen. Er maß die Riemen an den auf seinem Tisch angebrachten Markierungen ab, dann griff er nach der Schere im Werkzeugbeutel, der an der Tischkante herabhing - er hatte sie selbst hergestellt. Zu seiner Verärgerung entdeckte er, dass sie nicht an Ort und Stelle war.
Verflucht soll der Tag sein, an dem sich herumgesprochen hat, dass ich gute Scheren habe, dachte er. Trotz Taims angeblich so strengen Regeln in der Schwarzen Burg herrschte hier ein beunruhigendes Maß an Chaos. Grobe Verstöße wurden hart bestraft, aber die kleinen Dinge - wenn zum Beispiel jemand die Werkstatt eines Mannes betrat und sich seine Schere »borgte« - ignorierte man. Vor allem, wenn es sich bei dem, der sich etwas ausborgte, um einen der Favoriten des M’Hael handelte.
Androl seufzte. Sein Gürtelmesser wartete in Cuellars Werkstatt aufs Schärfen. Nun gut. Taim erzählt uns doch ständig, wir sollten nach Entschuldigungen für das Machtlenken suchen … Androl machte sich von sämtlichen Gefühlen frei, dann ergriff er die Quelle. Es war Monate her, seit ihm das schwergefallen war - zuerst hatte er die Eine Macht nur lenken können, wenn er dabei einen Lederriemen hielt. Das hatte ihm der M’Hael herausgeprügelt. Es war kein erfreuliches Lernen gewesen.
Saidin floss in ihn hinein, süß, mächtig und wunderschön. Einen langen Augenblick saß er einfach nur da und genoss es. Der Makel war verschwunden. Welch ein Wunder. Er schloss die Augen und atmete tief ein.
Wie würde es wohl sein, so viel von der Einen Macht in sich aufnehmen zu können wie die anderen? Manchmal dürstete er förmlich danach. Er wusste, dass er schwach war - von den Geweihten der Schwarzen Burg war er der Schwächste. Möglicherweise sogar so schwach, dass man ihn eigentlich niemals hätte befördern sollen. Logain war deshalb zum Lord Drachen gegangen und hatte die Beförderung gegen Taims ausdrücklichen Wunsch durchgesetzt.
Androl öffnete die Augen, hielt den Riemen hoch und webte ein winziges Wegetor von einem Zoll Durchmesser. Es erwachte vor ihm grell zum Leben und schnitt den Riemen in zwei Stücke. Er lächelte, dann ließ er es verschwinden und wiederholte den Prozess.
So manch einer behauptete, dass Logain Androls Beförderung nur erzwungen hatte, um Taims Autorität zu untergraben. Aber Logain zufolge war es allein um Androls unglaubliches Talent mit Wegetoren gegangen, das ihm den Titel eines Geweihten verschafft hatte. Logain war ein harter Mann, dessen Ränder zerbrochen waren, wie eine alte Schwertscheide, die man nicht anständig lackiert hatte. Aber in dieser Scheide steckte noch immer ein tödliches Schwert. Logain war ehrlich. Unter der Abnutzung ein
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