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Die Türme von Toron

Die Türme von Toron

Titel: Die Türme von Toron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel R. Delany
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anderen. Aber du hast so lange, so lange nicht mehr daran gedacht … Und dann erinnerte sie sich an sein stilles Lächeln, seinen stiergleichen Körper, sein rotes Haar, sein plötzliches Grinsen und sein tiefes Lachen wie das Brummen eines Bären. Und dann plötzlich erstarrte sie erstaunt, denn die Erinnerung war jetzt so viel klarer, da sie tat, was sie sich nie zuvor gestattet hatte. »Tomar!« flüsterte sie und wartete auf den Schmerz, der kommen sollte. Aber er kam nicht. Irgendwie war in den letzten Monaten die Wunde verheilt, und während des Heilungsprozesses war er ihr nicht entschlüpft, sondern noch näher gekommen, vielleicht, weil sie sich wieder in die Welt der Lebenden begeben hatte, wo auch er gelebt hatte, und nicht mehr in jener der Toten, wohin sie sich zu ihrem eigenen Schutz zurückgezogen gehabt hatte.
    Während sie in ihrem Schock immer noch reglos stand, begann etwas tief, tief in ihr hochzuquellen, sich in ihr Bewußtsein zu drängen, wie ein Puzzle, dessen Stücke sich plötzlich zusammenfügen …
    »Nein!« Sie kämpfte dagegen an. Riß es aus ihrer Erinnerung, verdrängte es wieder zutiefst in ihrem Innern.
    Sie keuchte heftig. Schweiß rann über ihren Rücken. Sie blinzelte und blickte auf Arkor. Sie sah, wie er die Stirn runzelte, kurz den Kopf schüttelte und sich umdrehte.
     
    Die bunten Lämpchen hingen dunkel von den Drähten zwischen Zelt und Ständen. Das Paar schob einen leeren Beutel in einen Abfallbehälter. Der Mond warf den Schatten des Wunderrads und des Karussells über das Gras. Der Tintenfisch, die Schildkröten und der Teufelsrochen hatten sich auf dem Boden ihres Tanks niedergelassen. Ruhe herrschte im Zirkusgelände.
     
    Sie trafen sich bei dem verdunkelnden Wunderrad. Der späte Mond verwandelte ihr Haar in leuchtendes Silber. Ihre Augen waren hohle Schwärze.
    Jon lächelte. »Wie gefällt dir das normale Leben nach so langer Zeit?«
    »Du nennst ein Leben im Zirkus normal?« Sie lächelte zurück. »Wie sieht es mit dem Krieg aus? Werdet ihr ihn beenden?«
    »Wir haben es wieder einmal versucht. Wir haben den Herrn der Flammen aus König Uske ausgetrieben.«
    »Was hat er diesmal angerichtet?«
    »Wir wissen es noch nicht«, erwiderte Jon. »Clea weiß es. Oder zumindest glaubt Arkor, daß sie es weiß. Aber es steckt zu tief in ihrem Geist.«
    »Das muß es wohl gewesen sein, was er meinte, als er heute abend mit mir sprach. Aber wie könnte Clea es wissen, Jon?«
    Er zuckte die Schultern. »›Wissen‹ ist sicher nicht das richtige Wort. Sie scheint irgendwie eine obskure Information zu haben, die völlig mit der übereinstimmt, die auch in König Uskes Geist versteckt war, als der Herr der Flammen ihn verließ.«
    »Ich verstehe«, murmelte Alter. »Weißt du, es ist komisch. Tel und ich, wir sind die einzigen Menschen in Toromon, die wirklich etwas darüber wissen, was ihr tut. Und beide haben wir uns wie von selbst davon gelöst. Er ist jetzt in der Armee, und ich bin im Zirkus. Er ist draußen in dem Krieg, den ihr zu beenden versucht, und ich – nun, ich bin hier.« Sie senkte den Kopf und hob ihn wieder. »Ich hoffe, er kommt bald zurück. Ich möchte ihn gern wiedersehen. Jon, bist du mit dir selbst ins klare gekommen? Ich meine, deine Suche nach der Freiheit, von der du manchmal gesprochen hast?«
    »Ich werde diese Art von Freiheit wohl kaum finden, ehe nicht der Krieg vorbei ist und ich nichts mehr mit dem Dreiwesen zu tun haben muß. Das sage ich mir zumindest. Im Straflager lernte ich das Warten. Und herumlaufen zu können, macht das Warten viel leichter. Ich lerne auch immer noch neue Dinge, die mir vermutlich von großem Nutzen sein werden, wenn alles vorüber ist. Aber manchmal beneide ich dich und Tel. Ja, wirklich. Ich hoffe, ihr zwei habt viel Glück.«
    »Danke, Jon.«
     
    Noch vor dem Morgengrauen wurden die Lichterketten heruntergeholt. Die aufgehende Sonne schickte ihre Strahlen über die Zelte, ehe sie zusammenfielen und gefaltet auf die Wagen verladen wurden. Ein paar Kinder waren extra früh aufgestanden, um zuzusehen, wie das Wunderrad, das Karussell und die Autoscooter-Arena zerlegt wurden. Um sechs Uhr dreißig rollten die Wagen bereits in Richtung Küste zu dem rot-goldenen Zirkusschiff, das sie zurück nach Toron bringen würde.
     

 
10.
     
    An diesem Morgen erschallte der Weckruf schon früher. Tel überprüfte die 606-B noch einmal gründlich, ehe sie in den Tank verladen wurde. Trotz des dichten Nebels war es angenehm

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