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Die Tulpe des Bösen

Die Tulpe des Bösen

Titel: Die Tulpe des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
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Angestellte von Swildens und die Bewohner der umliegenden Häuser befragt, aber niemand will die Person gesehen haben, die den Brief unter Swildens’ Haustür durchgeschoben hat.«
    »Dann ist da entweder jemand sehr vorsichtig gewesen oder …«
    »Oder der Brief ist nie unter der Tür durchgeschoben worden«, ergänzte Katoen, als van der Zyl mitten im Satz verstummte, um sich noch einmal der Lektüre zu widmen. »Falls das der Fall ist, kann er auf andere Weise in das Haus gelangt sein, oder aber er ist dort entstanden. Solange wir keine weiteren Anhaltspunkte haben, werden wir diese Frage kaum klären können.«
    Der Amtsrichter gab Katoen den Brief zurück. »Wer kann das nur geschrieben haben? Wer hat so intime Kenntnis von den Mordumständen?«
    »Der Mörder selbst.«
    Einen Augenblick lang starrte van der Zyl Katoen ungläubig an, dann aber nickte er. »Zweifellos verfügt der Mörder über dieses Wissen, aber warum gibt er es an die Öffentlichkeit weiter?«
    »Aus demselben Grund, aus dem er die Blütenblätter bei den Leichen hinterläßt: Er will, daß seine Taten Aufmerksamkeit erregen. Als der Tod des Werftbesitzers trotz des Blütenblatts in seiner Hand kaum Beachtung fand, war der Mörder vermutlich enttäuscht und beschloß, bei seiner zweiten Untat durch diesen Brief für die erwünschte Aufmerksamkeit zu sorgen. Und er hat sein Ziel erreicht.«
    »Das klingt zwar alles schlüssig, Katoen, aber es erklärt nicht, was den Mörder antreibt. Weshalb sucht er die Öffentlichkeit?«
    »Wenn wir das wüßten, hätten wir ihn wohl schon. Oder umgekehrt: Vielleicht werden wir das erst wissen, wenn wir den Mörder haben.«
    »Dann findet ihn, Katoen, findet ihn, und das schnell!«
    Sie begaben sich in den großen Salon, wo Nicolaas van der Zyl seine Gäste mit einer Ansprache begrüßte. Er wies auf den traurigen Verlust hin, den die ›Verehrer der Tulpe‹ durch die Morde an Jacob van Rosven und Balthasar de Koning erlitten hatten, und erklärte, daß er den Abend dem Gedenken an die beiden Verstorbenen widmen wolle. Er forderte seine Gäste auf, den Spendentopf, der auf einem kleinen runden Tisch stand, diesmal mit besonderer Freigebigkeit zu füllen, sollten die Einnahmen doch im Namen der Ermordeten der Amsterdamer Waisenkammer zur weiteren Verwendung übergeben werden.
    Catrijn setzte sich an das Virginal, das unter einem goldgerahmten Wandspiegel stand, und jeder, der ein paar Münzen in den Spendentopf warf, durfte sich ein Lied wünschen. Catrijns Finger tanzten mit großer Leichtigkeit und Virtuosität über die Tasten, und Katoen sah ihr bewundernd zu. Mehr als einmal ertappte er sich dabei, daß er ihr schönes Gesicht mit den verführerischen roten Lippen in dem Spiegel betrachtete.
    Dann aber beanspruchte der Amtsrichter seine Aufmerksamkeit, als er ihn der Reihe nach mit den ›Verehrern der Tulpe‹ bekannt machte, insgesamt fast dreißig an der Zahl, durchweg Amsterdamer Bürger von Rang: Bankiers, Kaufleute, Ärzte. Aber keiner von ihnen schien etwas zu wissen, das Katoen bei seinen Nachforschungen hätte weiterhelfen können, und ebensowenig schien jemand die Tulpensorte zu kennen, zu der das schwarze Blütenblatt mit den roten Tropfen gehörte. Sooft er auch die Holzdose mit dem Blatt öffnete, jedesmal erntete er ein Kopfschütteln und mußte die Dose enttäuscht wieder schließen.
    »Vielleicht solltet Ihr Euren Fund einmal dem alten Willem van Dorp zeigen. Angeblich gibt es keine Tulpe, die er nicht kennt.«
    Der das sagte, war ein Mann fortgeschrittenen Alters; Katoen schätzte ihn auf mindestens siebzig. Er trug eine blütenweiße, altmodisch gearbeitete Halskrause, hatte ein eher schmales Gesicht, und sein schütteres, teils noch dunkles, teils bereits graues Haar war kurz geschnitten. Der üppige, aber akkurat gepflegte Bart dagegen war schon vollständig grau und am Kinn sogar weiß. Die zahlreichen Falten, die das Gesicht durchzogen, und die tiefen Ringe unter den Augen kündeten von einem ereignisreichen Leben, aber die großen, dunklen Augen wirkten kein bißchen müde. Im Gegenteil, hellwach musterten sie Katoen.
    Der dachte, daß sein Gegenüber, der berühmte Kartenmacher und Verleger Joan Blaeu, im Alter seinem Vater, dem ebenso berühmten Kartenmacher und Verleger Willem Blaeu, immer ähnlicher wurde. Dessen Porträt hing im Rathaus, und es hätte genausogut ein Bildnis Joan Blaeus sein können. Nachdem Willem Blaeu vor mehr als dreißig Jahren gestorben war, führte der

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