Die Tulpe des Bösen
Haus, und ihr Vater wirkte so abgestumpft, daß er vielleicht gar nicht mehr richtig wahrnahm, wo er sich befand. Der alte Mann nippte hin und wieder an seinem Kirschlikör; ansonsten saß er reglos in einem mehrfach geflickten Sessel.
Als Katoen die Frau leise auf den Zustand ihres Vater ansprach, sagte sie: »So ist er die meiste Zeit über. Seine Gedanken weilen dann in der Vergangenheit, in der Zeit, als er ein anderes Leben führte. Für ihn ist es wohl das beste.«
»Aber was ist mit Euch? Ist das alles hier nicht bedrückend?«
Anna verzog ihre sanft geschwungenen Lippen zu einem Lächeln. »Sorgt Euch nicht um mich, Mijnheer Katoen. Ich bin voll und ganz damit beschäftigt, das nötige Geld für die Miete und unser täglich Brot zu verdienen. Da habe ich gar keine Zeit, Trübsal zu blasen.«
»Ihr habt also einen ausreichenden Verdienst?« fragte Katoen – nicht aus reiner Neugier, sondern weil ihm das Schicksal von Vater und Tochter Swalmius naheging.
»Ja, wir kommen zurecht. Seit einiger Zeit arbeite ich an mehreren Abenden in der Woche als Bedienung in einem Wirtshaus. Bis vor kurzem war ich in einer Näherei angestellt, aber dann mußte ich mir etwas Neues suchen. Diese Arbeit ging mir verloren, weil ich hin und wieder gefehlt habe.« Anna senkte die Stimme. »Wegen meines Vaters. Manchmal packt es ihn, so wie heute. Ich war nur kurz zum Einholen weg. Als ich zurückkam, war er fort, und ich fand die Zeitung auf dem Fußboden.« Sie wies auf ein schmales Regal, auf dem die jüngste Ausgabe des Amsterdamer Volksblattes mit dem Artikel über die Tulpenmorde lag. »Da wußte ich, daß es Vater wieder erwischt hat. Ich bin losgerannt und konnte in Erfahrung bringen, daß er aufgeregt in südlicher Richtung gelaufen war. Mir war klar, daß er wieder einmal zu van Dorp wollte. Ich bin ihm gefolgt, kam aber nicht mehr rechtzeitig, um zu verhindern, daß er über die Mauer von van Dorps Anwesen klettert. Wenn ihn der Tulpenhaß überfällt, verfügt er über die Tatkraft eines jungen Mannes.«
Katoen dachte daran, daß viele dem Wahnsinn Anheimgefallene über unnatürlich große Kraft verfügten, hütete sich aber, das laut zu sagen.
Anna griff erst jetzt nach ihrem Glas und trank einen gehörigen Schluck von dem scharfen Likör. Dann fragte sie: »Was hat Euch zu Willem van Dorp geführt, Mijnheer Katoen? Haben wieder einmal Tulpendiebe seine Beete geplündert?«
Er schüttelte den Kopf, stand von seinem Stuhl auf, ging zu dem Regal, auf dem das Amsterdamer Volksblatt lag, und tippte auf den Artikel über die Morde. »Ich war aus demselben Grund bei ihm wie Euer Vater.«
»Aber was hat van Dorp mit den Morden zu tun?«
»Nichts, jedenfalls nicht direkt. Ich wollte von ihm eine Auskunft einholen, hierüber.«
Er setzte sich wieder und zeigte Anna die geöffnete Dose mit dem Blütenblatt.
»Ist das eins der Blätter, die man bei den Ermordeten gefunden hat?«
»Ja, es ist …«
Er verstummte, als Sybrandt Swalmius sich plötzlich aus seinem Sessel stemmte, näher an den Tisch trat und die Dose in die Hand nahm. Gebannt verfolgte Katoen jede seiner Bewegungen. Würde erneut der Wahnsinn von dem alten Mann Besitz ergreifen? Der Gedanke, daß er dafür verantwortlich sein könnte, gefiel Katoen gar nicht.
»So, wie in dem Zeitungsbericht beschrieben«, sagte Swalmius leise, wie zu sich selbst. »Schwarz mit blutroten Tropfen.« Er ging zu dem kleinen Fenster und hielt das Blütenblatt gegen das Licht. »Ja, das ist sie. Das ist sie!«
Katoen und Anna traten zu ihm, und die Frau fragte sanft: »Was hast du, Vater? Warum regt dich dieses Tulpenblatt derart auf?«
Swalmius sah seine Tochter an und schien sie jetzt erst wahrzunehmen. »Aber Kind, es ist die Tulpe des Bösen!«
Natürlich war Swalmius verrückt, daran hegte Katoen keinen Zweifel, doch im Ton des Alten lag eine Ernsthaftigkeit, die ihn aufhorchen ließ.
»Die Tulpe des Bösen?« fragte er deshalb. »Was bedeutet das?«
Swalmius gab ihm die Dose zurück, fast so, als sei er froh darüber, sie nicht länger halten zu müssen. »So heißt die seltene Tulpensorte, zu der dieses Blatt gehört. Ein anderer Name, der sich auf die roten Tropfen bezieht, lautet Bluttulpe.«
»Hm«, machte Katoen ungläubig. »Versteht Ihr so viel mehr von Tulpen als der Tulpennarr van Dorp, Mijnheer Swalmius? Ich habe ihn nämlich gefragt, um was für eine Tulpensorte es sich hierbei handelt, und er wußte es nicht.«
»Das hat er gesagt?«
»Ja.«
»Dann
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