Die Ueberbuchte
recht haben. Denn die wirklichen Probleme, werden mit Sicherheit erst nach dem Wegfall der zahlreichen Ostvergünstigungen auftreten. Erst dann wird sich zeigen, ob die vielgerühmte Solidarität tatsächlich das ist was sie sein sollte. Nun, ich denke, eher das Gegenteil wird der Fall sein, da noch immer jeder zuerst an sich denkt – das ist nun mal so.«
Ruth hob entsetzt beide Hände. »Bitte nicht jetzt, nicht an diesem Abend! Es gibt ja kaum etwas anderes mehr, immer nur diese leidigen Probleme – Tag und Nacht, ich kann es manchmal einfach nicht mehr hören!«
Betroffenes Schweigen folgte.
Erst nach einer Weile, sagte Lena forschend von einem zum anderen sehend: »Wisst ihr was, der lange Spaziergang heute Nachmittag und dass anschließend gute Essen und Trinken, hat mich ziemlich müde gemacht. Und du, Knut, musst ja morgen auch sehr früh aufstehen.«
Er nickte erleichtert, denn er hatte sowieso schon mehrfach das Gähnen unterdrücken müssen.
Unten an der Haustür dann, als sie sich von Ruth verabschiedeten, drückte er sie überraschenderweise für einen Augenblick freundschaftlich an sich und sagte: »Nochmals vielen Danke, liebe Ruth, es war ein wunderschöner Abend – besonders dein Essen, das werde ich so schnell nicht vergessen können!«
Lena sah im matten Laternenlicht, wie Ruths Augen aufleuchteten und ihre Stimme zu zittern begann, als sie Knut eine gute Heimfahrt wünschte. Auch wenn sie sich mit aller Macht dagegen sträubte, spürte sie den Stachel der Eifersucht, der sich ihr schmerzend ins Herz bohrte. O ja, sie hatte längst bemerkt, dass Ruth Feuer gefangen hatte, und wenn sie es gemerkt hat, wird es Knut sicherlich auch nicht entgangen sein. Zumindest befiel sie neuerdings in Ruths Nähe ein seltsames Unbehagen – eine ungute Art von rivalisierenden Misstrauen.
»Ich bin tatsächlich hundemüde …«, gestand Knut.
»Ich auch …«, antwortete sie leise.
Seit jenem Besuch waren drei Monate vergangen. Der heiße Sommer begann sich auf sanfter, unauffälliger Weise zu verabschieden. Denn durch die langanhaltenden Hitzeperioden, samt seinen spärlichen Regenfällen, zeigte die Natur wesentlich früher als sonst, ihre ausgezehrten, herbstlichen Ermüdungserscheinungen. Selbst Lena, die normalerweise von Sonne und Wärme nie genug bekommen konnte, freute sich nun auf die wieder kühleren, angenehmeren Nächte des bevorstehenden Herbstes.
Außerdem würde dann endlich Knut wieder über etwas mehr Freizeit verfügen können, als es in den Sommermonaten der Fall war. Bisher hatten sie nur überwiegend miteinander telefoniert, und sich nur zweimal für wenige Stunden gesehen. Das ihr trotz alledem die Zeit nie lang geworden war, war einzig und allein ihrer intensiven Arbeit zuzuschreiben. Denn sie hatte durch die recht gelungene Ausstellung in der Schweiz, einen unerwartet interessanten Auftrag bekommen, der ihr alle verfügbare Kraft abverlangte. Wobei sie am Anfang des Öfteren sogar von einem Gefühl der Nichtbewältigung heimgesucht wurde. Denn sie bekam zum ersten Mal eine bis dahin unbekannte Leistungsgrenze zu spüren. Und das völlig allein auf sich gestellt zu sein, kostete zusätzliche Kraft. Dabei hatte sie wiederholt erfahren müssen, dass sie sich gerade in diesen einsamen Stunden, besonders nachts, nach Knuts zärtlicher Wärme sehnte. Jedoch bei Tagesanbruch und neuer Energie, verabscheute sie zumeist umso heftiger ihre Schwäche – und schämte sich ihrer allzu sinnlichen Anwandlungen.
Zumindest begann sich, wenn auch nur ganz allmählich, die gewohnte Normalität wieder einzustellen. Der Freiraum wurde Gott sei Dank wieder größer, so dass sie sich hin und wieder einen gemächlicheren Gang erlauben durfte. Selbst Ruth hatte sie schon mehrere Wochen nicht mehr zu Gesicht bekommen, von ihren Kindern ganz zu schweigen. Das alles würde sich von nun an, wie von selbst normalisieren.
Am besten sie fing gleich mal damit an. Sie ging zum Telefon und rief Ruth an. Doch nichts, sie war nicht zu Hause. Nun wählte sie die Nummer ihrer Tochter, aber auch da schien niemand zu Hause zu sein. Und bei weiterer Überlegung musste sie sich eingestehen, dass sie in Wirklichkeit weder erwartet noch vermisst wurde. Ihre momentane Zurückgezogenheit schien überhaupt keiner zur Kenntnis genommen zu haben. Demnach hätte sie ruhig sterben können und keiner hätte es bemerkt.
Von diesen merkwürdigen Gedanken zutiefst berührt, schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich
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