Die Ueberbuchte
wahrhaftig – weißt du – mir ist, als ob ich das alles zum ersten Mal sehe – dabei bin ich doch hier aufgewachsen.«
»Wohl so eine Art Wiedergeburt«, versuchte Ernst zu scherzen.
Ohne auf das Gesagte zu achten, fuhr Knut in seiner sonderbar abwesenden Nachdenklichkeit fort: »Früher … o ja – da hat mich die stürmische See immer schon wahnsinnig gefesselt – aber eben ganz anders – nur als wildes, faszinierendes Spiel. Doch gesehen, richtig gesehen …?«, er verstummte. Kurze Zeit danach, begann er erneut: »Noch seltsamer ist …« Wiederum stockte er, er fuhr sich mit der feisten, nur leidlich gepflegten Hand über das Kinn. Eine Geste, die schon im Kindesalter seine Unsicherheit, seine innere Unstimmigkeit offenbarte. Nun aber fuhr er mit etwas gehobeneren Stimme fort: »Das das nur ein Beispiel von vielen ist. Selbst die überaus bevorzugten, sonnigen, von vegetationsreicher Vielfalt überschütteten, über und über mit Baudenkmälern bestückten Regionen, machen darin keine Ausnahme. Ich habe so viel gesehen – und wiederum auch nicht. Ist es denn möglich, dass das Leben, so ereignisreich wie das Meinige, spurlos an einem vorübergehen kann, ohne es überhaupt zu bemerken?«
Der auf die Hände aufgestützte weißhaarige Kopf, wandte sich nur unwesentlich zur Seite. »Ob das möglich ist oder nicht – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mir, soweit ich zurückdenken kann, ein solches unbeteiligt sein noch nie begegnet ist. Vielleicht ein Resultat deiner überaus ereignisreichen Lebensweise. Möglicherweise lässt sich eine andauernde Reizüberflutung gar nicht anders bewältigen; sie stumpft ab, macht unempfindlich.«
»Schon möglich.« Er zog wie Ernst die Beine hoch und schlang beide Hände um die Knie. »Dann mag Dagmar sogar recht haben mit ihrer Behauptung.«
»Welcher Behauptung denn?«
»Das ich oberflächlich und egoistisch sei.«
»Ach ja …?« Er lachte leise in sich hinein. »Hat sie das behauptet?«
»Ja.«
Wiederum ein längeres Schweigen.
Plötzlich erhob sich Ernst. »Ich glaube, es wird höchste Zeit für uns zurückzukehren, wenn wir Dagmars Unmut nicht riskieren wollen.«
Auch am letzten Tag seines Aufenthaltes auf Sylt, setzte sich das schöne frühlingshafte Wetter fort. So dass ihnen erstmals in diesem Jahr, ein Aufenthalt auf der windgeschützten Veranda vergönnt wurde.
Dagmar hatte am Morgen bereits, die Gartenmöbel von der schützenden Folie befreit und samt ihren bunten Sitzkissen und sonstigen Bequemlichkeiten auf der Veranda aufgestellt. Auf dem runden Tisch mit weit überhängender Decke, prangten ein üppiger Strauß herrlichster Frühlingsblumen, und daneben eine flache Keramikschale mit frischen Obst.
Wenig später erschien Dagmar mit einem olivfarbenen, wadenlangen Wollkleid auf der Veranda. »Ist das nicht ein Wetter zum Verlieben heute?!«, rief sie in gespielter Verzückung. Sie beugte sich leicht vor und küsste ihren Mann herzlich auf den Mund. Und zu Knut gewandt, sagte sie mit ordentlich feierlicher Miene: »Ein richtig schönes Abschiedsgeschenk, findest du nicht auch?«
»O ja, es könnte nicht besser sein.« Er lehnte sich zur Seite und fasste nach ihrer schlanken Hand. »Es waren schöne, gute Tage, die mir nicht nur physisch gutgetan haben.« Er grinste etwas verschämt. »Mir ist es, als sei ich ein Stück erwachsener geworden.«
»Sei froh, mein Bruderherz, wenn du das sagen kannst – manche können’s nämlich nie«, scherzte sie in ausgelassener Stimmung.
»Nein, mal ohne Quatsch, auch wenn es sich reichlich pathetisch anhört, ich fühle mich irgendwie reifer, geläuterter.«
»Ist ja gut«, winkte Dagmar spöttisch ab, »man könnte ja sonst meinen, dass noch nicht alles verloren sei. Wer weiß, vielleicht lässt du dich eines Tages doch noch bekehren.«
»Bekehren …? Für was?«
»Na, zum Beispiel für ein gesittetes, harmonisches Familienleben. Oder wenn dir das zu eingeengt erscheinen sollte, dann wäre auch ein freundschaftliches Zusammenleben dringend zu empfehlen.«
»Mit anderen Worten, eine Frau fürs Leben; sag’s doch gleich!«
»Und was spricht dagegen?«
»Dagegen gar nichts, aber auch nichts dafür. Wenigstens nichts Zwingendes.« Er richtete sich gerade auf und sah sie fest an. »Dagmar, deine gut gemeinten Ratschläge in allen Ehren, doch die hinken ganz gewaltig. Entschuldige bitte, aber es ist so. Das Leben da draußen, weit ab von eurer täglichen Idylle, sieht es zumeist etwas anders aus.
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