Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ueberlebende

Die Ueberlebende

Titel: Die Ueberlebende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kishwar Desai
Vom Netzwerk:
also musste ich mich beruhigen. Und doch konnte ich gleichzeitig nicht aufhören, darüber nachzudenken, welchen Bedrohungen eine Frau ausgesetzt war. Aber waren die Dinge nicht dabei, sich zu verändern? Sollte ich vielleicht weniger pessimistisch sein? Wir hatten eine Premierministerin gehabt, hatten gerade unsere erste Präsidentin in ihr Amt gewählt, und allerorts waren Frauen in Gremien vertreten. Aber hatte sich wirklich etwas geändert? Gerade heute früh hatte ich wieder über eine Frau gelesen, die man in einem Dorf in Uttar Pradesh nackt ausgezogen und als vermeintliche Hexe durch die Straßen getrieben hatte.
    Ich holte das Foto von dem Mädchen hervor, das ich im Haus gefunden hatte, und betrachtete es mir eingehend. Sie lag auf einem Bett, aber schlief sie auch wirklich? Und wer war sie? Ich drehte das Bild um, aber es stand nichts auf der Rückseite geschrieben. Kein Name, kein Datum. Ganz bestimmt war dieses Bild nicht zu pornografischen Zwecken aufgenommen worden. Und es war auch nicht gestellt. Die Kameraperspektive war irgendwie verstörend – man konnte überhaupt nichts von dem Zimmer erkennen. Das Mädchen lag völlig arglos da, es schien gar nicht zu merken, dass es fotografiert wurde. Und doch wirkte ihre Haltung unnatürlich, steif, als hätte man sie extra so hingelegt. Im Vordergrund konnte man die Kante eines Fensters oder einer Tür erahnen. Oder befand sie sich in einer Zelle? War es einer der Gitterstäbe, der den Schatten dort warf? Aber wieso lag das Mädchen in dieser Haltung da? Ich legte das Foto auf meinen Scanner, um es zu vergrößern, zoomte mich Stufe um Stufe immer weiter hinein, bis es sich kaum noch höher auflösen ließ und in Millionen Bildpunkte zerfiel. Und es war, wie ich befürchtet hatte … Aus den Pixelfragmenten wurden die Augen des Mädchens erkennbar – weit aufgerissen starrten sie blind an die Decke.
    Warum hielt Durga diese Fotografie zwischen ihren Büchern versteckt? War dies der Grund, aus dem sie mich unter dem Vorwand, ihre Bücher haben zu wollen, in das Haus geschickt hatte? Mich beschlich eine Ahnung, dass das Mädchen ihre verschwundene Schwester sein könnte, aber wen konnte ich mit einem solchen Foto darauf ansprechen? Und wenn Durga nun gar nicht gewollt hatte, dass ich das Bild finde? Sogar mein ziemlich unterentwickelter psychologischer Instinkt sagte mir, dass ich es Durga nicht zeigen durfte, zumindest vorläufig nicht, denn dazu stand sie noch viel zu sehr unter Schock. Es konnte zur Folge haben, dass sie sich noch mehr zurückzog. Dieser Fall würde sich ohnehin noch eine ganze Weile hinschleppen, also vergab ich mir nichts, wenn ich nicht gleich mit neuen Beweisen hereingeplatzt kam. Nun war ich bereits seit vier Tagen hier, und alles, was ich hatte, war eine lange Liste von Fragen … und ein ohrenbetäubendes Schweigen.
    Ich blätterte mich durch den Stapel von Papierbögen, die ich unter der Matratze gefunden hatte. Ich beschloss, mir ein ganz einfaches Anfängerlehrbuch für Gurmukhi-Schrift zu besorgen, um zu entziffern, was auf den Zetteln stand, ehe ich sie weitergab.
    Doch zunächst würde ich in die Stadt fahren und mich für den Abend mit etwas zu trinken eindecken, um besser schlafen zu können. Langsam begann mir das alles an die Nieren zu gehen.
    Unterwegs klingelte mein Mobiltelefon. Ganz im Gegensatz zu meinen sonstigen Gewohnheiten hatte ich vergesssen, es auszuschalten. Am Apparat war meine Mutter.
    Â»Geht es dir gut?«, verlangte sie zu wissen. »Bist du schon bei deinem früheren Zuhause gewesen?«
    Â»Nein, ich war zu sehr mit dem Fall beschäftigt. Aber ich habe Amrinder getroffen. Sie ist mit einem Polizeibeamten verheiratet. Sie haben zwei reizende Mädchen.«
    Am anderen Ende der Leitung entstand eine vielsagende Pause. Meine Mutter hasste jegliche Bemerkung, die mit dem bewussten Wort in Zusammenhang stand, das mit E anfängt und drei Buchstaben hat. Es erinnerte sie daran, dass sie jetzt Babyschuhe für ihre Enkel häkeln könnte, anstatt auf eine fünfundvierzig Jahre alte, Gin saufende, Zigaretten rauchende Renegatin von einer Tochter aufzupassen, die nie erwachsen würde. Und nicht minder hasste sie die Erwähnung von Amrinders Namen, weil dadurch ein trauriges Kapitel in unserem Leben wieder aufgeschlagen wurde, das sie am liebsten für alle Zeiten unter Verschluss gehalten

Weitere Kostenlose Bücher