Die Ueberlebende
trug.
»Ich habe dir deine Bücher mitgebracht. Ich habe einfach so viele zusammengerafft, wie ich tragen konnte, aber wenn du etwas Bestimmtes vermisst, sage es mir. Ich kann jederzeit in das Haus zurück.«
Sie wirkte ein wenig verwirrt, als sie die Bücher von mir in Empfang nahm. »Das sind nicht meine.«
»Was? Aber ich habe sie aus deinem Zimmer.«
»Sieh doch selbst.« Sie schlug eines der Bücher auf. Es verwunderte mich, dass ich nicht gleich darüber gestolpert war. Sowohl in Gurmukhi als auch in Englisch stand da in sorgfältig geschnörkelter Schrift »Sharda«.
»Das sind die Bücher meiner Schwester.«
»Aber ich habe überall gesucht. Das war das einzige Zimmer, das aussah, als könne es deines sein.«
Tränen traten ihr in die Augen. »Sie haben meine Bücher weggetan ⦠Als Sharda verschwand ⦠haben sie alles, was ihr gehört, versteckt. Und nun bin ich fort, und sie haben auch meine Sachen alle weggenommen. Hast du denn sonst gar nichts finden können?«
Mir fiel natürlich die Fotografie ein, aber ich war mir noch unschlüssig, ob ich sie erwähnen sollte, also schüttelte ich bloà den Kopf.
Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Ihre fast lautlosen Schluchzer klangen zutiefst verzweifelt, als hätte sich soeben ihre letzte Hoffnung zerschlagen. Mich verwunderte, dass sie gesagt hatte, »sie« hätten ihre Bücher weggenommen. Es befand sich schlieÃlich niemand mehr in dem Haus. Ihre gesamte Familie war ausgelöscht.
»Pass auf. Ich beschreibe dir mal das Zimmer. Es ist die dritte Tür nach dem Esszimmer, und darin steht ein Schreibtisch mit einem Computer darauf â¦Â«
Langsam nahm sie die Hände vom Gesicht. »Das ist mein Zimmer.« Sie sah mich fragend an. »Aber wo sind meine Bücher? Bitte, bitte, ich brauche etwas zu lesen, etwas zu tun, damit ich bei Verstand bleibe, sonst werde ich hier drin verrückt.«
»Also gut, ich werde um Erlaubnis ersuchen, dich dorthin mitzunehmen, möglicherweise noch vor dem Lichterfest. Vielleicht möchtest du für deine Familie eine Lampe anzünden, in Angedenken â¦Â«
Sie sah mich ungläubig an. »Das werden sie nicht erlauben.«
Wieder dieses mysteriöse »sie«. Glaubte Durga, ihre Familie wäre wieder zum Leben erwacht? Oder lebte sie in einer Traumwelt? Oder meinte sie damit die Polizei? Aber das wollte ich sie jetzt nicht fragen.
»Ich weià nicht, warum du das jetzt sagst. Wir sind doch hier, um dir zu helfen. Du hast eine äuÃerst traumatische Erfahrung hinter dir. Wir wollen dir dabei helfen, zu begreifen, was geschehen ist, und erst danach können wir die Sache als abgeschlossen betrachten und an die Zukunft denken.«
Ich hatte keinerlei Zweifel daran, dass sie ein ausgesprochen intelligentes Mädchen war, das genau verstand, was ich sagte. In gewisser Weise setzte ich auch alles auf diese eine Karte, um eine Beziehung zwischen uns aufzubauen, etwas, was sie dazu brachte, mir zu vertrauen. Vielleicht würden wir dann miteinander reden können.
»Erzähl mir von deiner Schwester. Wie ist sie so gewesen?«
»Sie war sehr hübsch.« Durga fuhr mit dem Finger über den Namen, der in das Buch geschrieben war. Mein Blick wanderte zu der Tätowierung auf ihrem Arm.
»Wessen Name ist das?«
»Das ist kein Name.«
Dem fügte sie nichts weiter hinzu, aber ich beugte mich vor, um die Tätowierung besser erkennen zu können. Es sah aus wie ein verschnörkeltes » S« ; aber es könnte auch eine um ein Herz herum drapierte Schlange sein. Offensichtlich wollte sie aber nicht darüber sprechen.
»Ich nehme an, du hast sämtliche Fotografien, die es in dem Haus von dir und von ihr gab, verbrannt? Als ich dort war, gab es nämlich nicht eine einzige Aufnahme.«
»Ich soll die Bilder verbrannt haben? So etwas hätte ich nie getan. Wer hat das erzählt?«
»Jemand, den ich in dem Haus angetroffen habe ⦠Manubhai.«
»So ein Lügner! Sie sind alle Lügner! Sie tun Dinge und geben mir dann die Schuld daran, weil das das Einfachste ist. Vor allem jetzt. Selbst wenn sie dir erzählen würden, dass ich das Blut von Kühen trinke und auf einem Besenstiel herumfliege, würdest du es glauben. Aber was ist mit mir? Ich bin geschlagen worden, ich bin vergiftet worden, ich wurde vergewaltigt, aber nein, das tut ja
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