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Die Ueberlebende

Die Ueberlebende

Titel: Die Ueberlebende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kishwar Desai
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wir nie unser Haus verlassen müssten, einander immer nahe bleiben würden. Außerdem hatten wir gerade erfahren, dass das Mädchen aus dem Nachbarhaus, die als Braut fortgegangen war, binnen eines Monats als Leiche zurückkehrte. Sie war verbrannt worden, weil ihre Mitgift nicht hoch genug gewesen war. Wir haben uns bei Amla ausgeweint, dass wir nicht paraya dhan sein wollten. Konnten wir nicht lieber Jungen werden? Jungen hatten es gut, sie bekamen Vermögensanteile und konnten für immer in ihrem Elternhaus wohnen bleiben.
    Es hatte keinen Zweck, sich an meine Mutter zu wenden, denn sie hatte uns bereits gesagt, dass wir verheiratet würden, sobald wir alt genug waren. Auch mein Vater hatte uns schon gesagt, dass kein Mädchen in seiner Familie je gearbeitet hätte und dass es keinen Grund für ihn gäbe, uns weiter auf die Schule zu schicken.
    Was, wenn wir auch wegen unserer Mitgift verbrannt würden? Auf diese Frage bekamen wir keine Antwort. Mein Vater war reich, aber wenn er nicht einmal eine einzige Anteilsaktie auf ihren Namen erwerben konnte, wie sollte er dann das Le ben seiner Töchter schützen?
    â—† ◆ ◆
    Im Fernsehen wurde groß verkündet, man würde zum Gedenken an die »verschwundenen Töchter« junge Bäume pflanzen. Der Punjab ist berüchtigt dafür, dass er seine Töchter mordet. Die Rate von Frauen gegenüber Männern ist hier die niedrigste im ganzen Land – weniger als 850 Frauen auf 1000 Männer. Und trotz jeder Menge ernster Warnungen von Seiten der Sozialwissenschaftler und Demographen sind Mädchen hier einfach nicht erwünscht. In Chandigarh, der gemeinsamen Hauptstadt der beiden Bundesstaaten Punjab und Haryana, ist das Verhältnis sogar nur 777 zu 1000, und in manchen Dörfern in Haryana sind es mickrige 370 Frauen pro 1000 Männer. Auch Delhi nähert sich mit raschen Schritten derart erbärmlichen Verhältnissen. Ich stellte mir vor, dass überall in der Betonmasse der Millionenstadt Bäume gepflanzt würden, und auch in sämtlichen anderen Städten des Landes, ihr leuchtendes, lebensbejahendes Grün einen Gegenpol bilden würde zu dem Grau der Stadtlandschaften. Bäume würden aus sämtlichen Fenstern wachsen, aus denen von Schlafzimmern, Klassenzimmern und Büroräumen, aus Spielzeugläden, Brautmodengeschäften, leeren Kinderbettchen … grüne Blätter wie eine Spur aus winzigen Fußabdrücken. Überall dort, wo Mädchen gewesen wären – wenn sie denn je hätten leben dürfen.
    Es ist noch gar nicht einmal so lange her, dass Hebammen neugeborene Mädchen von ihren Müttern fortnahmen, sie in irdene Gefäße einschlossen und diese dann so lange hin und her rollten, bis das Baby darin zu schreien aufhörte. Oder sie ließen sie einfach in den Töpfen ersticken. Oder sie verabreichten ihnen Opium und vergruben sie dann. Für ein Gemeinwesen, das sich hauptsächlich von Landwirtschaft ernährte, waren Mädchen eine Bürde. Erst jüngst wurde von einer Frau berichtet, die zugeben musste, dass sie in der Hoffnung, endlich einmal einen Jungen zu bekommen, sieben Abtreibungen hatte vornehmen lassen.
    Was machte mich so wütend? Binny hatte mir gerade einen Zeitungsausschnitt über eine neunundfünfzigjährige Engländerin indischer Abstammung geschickt, die mit ihrem zweiundsiebzigjährigen Ehemann nach Indien gereist war (der Name wurde zum Schutz der Persönlichkeitsrechte natürlich geheimgehalten). Und wo kamen diese Leute her? Aus Wolverhampton natürlich. Nach einer teuren künstlichen Befruchtung gondelte sie zurück nach England – nur um hier ihre beiden Zwillingstöchter in einer Kinderklinik abzuladen. Sie wollte sie nämlich nicht haben. Und warum wohl nicht? Sie hatte sich selbstverständlich Söhne gewünscht. Aber ja, natürlich. Wie dumm, überhaupt gefragt zu haben! Verdammt.
    Ich bekomme das Bild dieser Kinder nicht aus meinem Kopf. Es spielt überhaupt keine Rolle, wo man lebt oder wie alt man ist. Man kann gebildet sein, zur Mittelschicht gehören, aber das Sehnen nach einem Sohn lässt einen nicht los. Verfluchte Mörder. Ich brauchte dringend ein Bier, musste mir Abkühlung verschaffen.
    Ich war wieder in meinem Zimmer und hatte mich noch kaum von meinem Besuch in dem Haus in Company Bagh erholt. Heute Abend würde ich mich wieder mit Durga treffen,

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