Die Ueberlebende
hätte.
»Kommst du zum Fest nach Hause?«
»Das ist doch noch eine Weile hin, Mom. Warum ergreifst du nicht die Initiative und verabredest dich mit deinen Freundinnen?«
»Ich denke, ich werde mir einen ruhigen Abend bei mir zu Hause machen. In Delhi ist wieder eine Bombe hochgegangen. Al-Kaida oder sonst welche islamischen Fundamentalisten vermutlich. Oder militante Extremisten aus Pakistan. Niemand weià das so genau. Könnte eine Gruppierung aus Bangladesh sein oder aus Pakistan oder aus Kaschmir. Da kann einem ja jede Lust aufs Feiern vergehen. Diese verdammten Selbstmordattentäter sind ein einziges Ãrgernis.«
Meine Mutter ist eine Meisterin des Understatements.
Fünfzig Tote bei der Eisenbahnexplosion in Amritsar. Das konnte der Beginn einer neuen Welle des Terrors sein ⦠Der Rikschafahrer, der es eilig hatte, nach Hause zu kommen, hatte mir die Zahl genannt.
Während ich mit meiner Mutter telefonierte, musste ich an Durga denken. Irgendwie war sie auch eine Art Selbstmordattentäterin â falls sie wirklich ihre Familie auf dem Gewissen hatte â, denn sie musste doch gewusst haben, dass sie damit nicht davonkäme. Oder wollte sie für die Morde zur Verantwortung gezogen werden und hatte deshalb den Verdacht auf sich gelenkt? Warum war sie nicht geflohen? Einfach an Ort und Stelle zu bleiben, war ja nun ganz gewiss nicht gerade das Klügste, was sie hatte tun können. Und sich dann auch noch dabei ertappen zu lassen, wie sie das Gift kaufte! Aber Selbstmordattentäter bekannten sich eben durch ihre Bekennerschreiben zu ihren Taten. Der einzige Haken bei dieser Erklärung bestand darin, dass sie vergewaltigt worden war. Sie mochte alles noch so schlau eingefädelt haben â das vorzutäuschen wäre doch sehr schwierig geworden.
Ich besänftigte meine Mutter, indem ich ihr versprach, bald nach Hause zu kommen. Sie konnte sich einfach nicht mit der Tatsache abfinden, dass ich, abgesehen von meinem Singledasein und sämtlichen weiteren Sünden, derer ich mich schuldig gemacht hatte, mich nun auch noch mit Mörderinnen einlassen musste. Warum konnte ich denn nicht wenigstens an den »Kitty-Partys« im örtlichen Reitsportverein Gefallen finden? Meine Mutter liebte diese rituellen monatlichen Zusammenkünfte mit ihren verheirateten und, wohlgemerkt, auch unverheirateten Freundinnen, bei denen jede von ihnen eine bestimmte Summe in eine »Kitty« genannte Gemeinschaftskasse zahlte. AnschlieÃend wurde eine Tombola abgehalten, und wer den Inhalt der Sammelbüchse gewonnen hatte, musste die Verliererinnen zum Essen einladen. Das besuchte Restaurant wie auch die Summe des gesammelten Geldes variierten den Vermögensverhältnissen der Teilnehmerinnen entsprechend. Je betuchter die glückliche Gewinnerin war, desto nobler fielen der Austragungsort für das gemeinsame Essen und umso langweiliger das vorherrschende Gesprächsthema bei Tisch aus. Eines Tages würde ich wohl mal dahinterkommen, wieso es keiner der Frauen auffiel, dass es wie ein besonders albernes Wortspiel anmutete, wenn sie ihre Zusammenkünfte als »Kitty-Party« bezeichneten.
So schonend wie möglich brachte ich meiner Mutter bei, dass ich ihre »Kitty-Party« in diesem Monat leider versäumen würde. Als sie sich von mir verabschiedete, konnte ich die ganze Schwere ihre Enttäuschung in ihrer Stimme spüren. Erhabener Bhagwan, warum war sie bloà mit mir gestraft wor den?
Mit dem Gefühl, dass es nun keine Zeit mehr zu verlieren galt, kletterte ich in eine Rikscha und wies den schockierten Fahrer an, mich zu dem nächsten Laden für »In Indien hergestellte ausländische alkoholische Getränke« (noch so ein albernes Paradox) zu fahren. Als ich mich â ungeachtet der kritischen Blicke des Verkäufers â mit Gin, Whisky und Bier eingedeckt und alles in braunen Papiertüten verborgen hatte, fühlte ich mich schon ein bisschen besser, und nachdem ich meinen Einkauf im Gästehaus abgeladen hatte, begab ich mich ins Untersuchungsgefängnis, wo ich mich in das Besucherzimmer setzte, um auf Durga zu warten.
Heute erschien sie wieder in Blau gekleidet, ihr frisch gewaschenes Haar trug sie noch offen. Sie hatte wirklich sehr langes Haar. Ich dachte an das Foto, das ich im Haus gefunden hatte, und fragte mich, ob es nicht vielleicht doch sie war. Neugierig beäugte sie die Taschen, die ich bei mir
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