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Die Ueberlebende

Die Ueberlebende

Titel: Die Ueberlebende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kishwar Desai
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wir erst älter wären.
    Ich weiß, dass ich schlauer und klüger bin als die übrigen Mädchen in meiner Klasse, aber das kann ich niemandem beweisen … weil ich nämlich keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen darf. Das sagt er jedenfalls. Sei vernünftig, sei ruhig, lass dich nicht gehen. Werde niemals vor anderen wütend. Ich erinnere mich noch daran, wie er zum ersten Mal zu mir gesprochen hat. Ich habe meine Hausaufgaben an meinem eigenen Tisch gemacht, und er sah meiner Schwester über die Schulter. Ab und zu kam er herüber zu mir, um sich auch meine Arbeit anzusehen, und hat dann hier und dort etwas verbessert. Ich mochte es, wie er mir zuhörte. Außer meiner Schwester hat mir sonst nie jemand zugehört, also war das für mich eine ganz neue Erfahrung. Ich habe jeden Tag die Zeitung gelesen und Bücher, damit ich ihm etwas zu sagen hatte, egal, was. Selbst wenn ich ihm berichtet hätte, dass Astronauten auf der Venus gelandet wären, obwohl dort Temperaturen von 500 Grad Celsius herrschen, hätte er mir zugehört und mich wahrscheinlich noch ermuntert, ihm noch mehr davon zu erzählen. Ihm gefielen all meine kleinen erfundenen Geschichten, die mit der Zeit immer verrückter wurden. So kann es gehen, wenn man wie eine Einsiedlerin lebt. Man denkt sich die ganze Zeit irgendetwas aus. Ich frage mich inzwischen, ob ich ihn nicht vielleicht auch nur erfunden habe. Konnte ich mir das alles selber zusammenfantasiert haben, weil ich mich so verzweifelt danach gesehnt habe, geliebt zu werden? Alles ist möglich. Vielleicht bin ich auch nicht ganz richtig im Kopf. Schizophren. Man sagt, dass das vererblich wäre. Ich weiß, dass es das ist, worauf sie warten. Dass ich überschnappe. Vielleicht tue ich ihnen eines Tages sogar den Gefallen.
    Ich weiß nicht mehr, wann ich angefangen habe, Spiele mit ihm zu spielen wie mit meiner Schwester. Wenn sie nicht mit im Zimmer war, habe ich seine Hand gehalten. Da ging mir auf, warum Sharda das so gerne mochte, denn mir gefiel es auch. Es brachte mich dazu, mir noch mehr Mühe beim Lernen zu geben. Sowie der Unterricht beendet war, hörte er zu, was ich zu sagen hatte, und nahm mich dann fest in die Arme. Niemand hatte mich je fest in den Armen gehalten, außer Sharda, also war es auch wieder ein so schönes Gefühl. Er hat mich ermahnt, nicht darüber zu sprechen, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Nicht nach dem, was mit ihr passiert ist.
    Wir teilten Geheimnisse über Geheimnisse in unserem stillen Kämmerlein, Dinge, die wir alle drei wussten, über die wir aber nie ein Wort verloren. Vor allem nicht, nachdem Sharda nicht mehr bei uns war und Manubhai seine beiden Töchter zu uns ins Haus brachte, damit sie in den Dienerkammern neben dem Garten wohnen. Diese Kammern lagen gleich neben den Zimmern meiner Brüder, und ich weiß jetzt, warum Amla dauernd gesagt hat, mit Mädchen hätte man nichts als Ärger – und das ist auch der Grund, weshalb mein Vater Jitu, den Sohn seines eigenen Bruders, adoptiert hat.
    Ich habe mir immer allergrößte Mühe gegeben, niemandem Ärger zu machen. Das war das größte Problem, glaube ich.
    â—† ◆ ◆
    Ich muss schon sagen, dass ich ziemlich schockiert war, als ich in Binnys Mail von der Untersuchung zur Bestimmung des Geschlechts ihres Babys las. Ich fragte mich, ob sie wohl wusste, dass so etwas illegal und außerdem selbst für eine Familie wie die Atwals, die eine enge Freundschaft mit den Polizeioberen verband und die auch ansonsten über gute Beziehungen verfügte, mit erheblichen Risiken behaftet war. Der betreffende Arzt hatte der Familie mit diesem heimlichen Termin zweifellos einen ganz besonderen Gefallen getan. War dies ein weiterer Mosaikstein in dem komplizierten Puzzle, das Durgas Leben darstellte? Kein Wunder, dass ihr Vater den örtlichen Kliniken so viel Geld gespendet hatte. Andererseits war es für die Atwals als Besitzer diverser Pflegeheime natürlich auch leicht zu arrangieren gewesen.
    Im Augenblick sah ich wenig Sinn darin, dieses neu erworbene Wissen auch nur zur Sprache zu bringen. Es würde in dem Fall keinerlei Fortschritt bewirken und lediglich der Presse ein paar neue Sensationsschlagzeilen verschaffen. In den hiesigen Zeitungen war bereits ein Bild von mir veröffentlicht worden – nebst der vertraulichen Information, ich wäre eine von Durgas in England lebender

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