Die Ueberlebende
mein Spiegelbild als Spiegelbild eines Spiegelbildes sah, und das letzte in dieser Abfolge von Spiegelbildern zeigte nicht mich, sondern Durga. Aber es war so winzig, dass es eine Million Jahre dauern würde, zu ihm zu gelangen.
Für einen Drink war es noch zu früh am Tag, also zündete ich mir stattdessen eine Zigarette an. Ich inhalierte den Rauch, sog ihn tief in meine Lunge, wo ich ihn einen Augenblick lang behielt, und zwang mich zu einem Moment der Entspannung. In der Hoffnung, wenigstens damit weiterzukommen, rief ich Amarjits Büro an, um mir die Anschrift von Harpreet Singh, Durgas Hauslehrer, durchgeben zu lassen. Nachdem ich sie bekommen hatte, wollte ich mich unverzüglich mit meiner Lieblingsrikscha auf den Weg zu ihm machen, wobei ich dem einladenden Geklimper der Bier- und Whiskyflaschen geflissentlich keine Beachtung schenkte.
Die Route dorthin war ziemlich umständlich. Nachdem wir einige Irrungen und Wirrungen durch falsche Wegbeschreibungen hinter uns gebracht und allerhand EinbahnstraÃen â die mein Fahrer mit bemerkenswerter Seelenruhe dem flieÃenden Verkehr entgegen in Angriff nahm â glücklich überstanden hatten, fanden wir die gesuchte Adresse mehr oder weniger zufällig in einer schmalen Gasse des Marktviertels. Harpreet Singhs Behausung befand sich oberhalb eines winzigen SüÃwarenladens und eines kleinen Restaurants, das unter der bunten Zeichnung eines stolzierenden Gockels mit dem Motto »Weit gereist? Hier wird gespeist!« für sich warb. Selbiger Reklametafel konnte ich auÃerdem entnehmen, das hier servierte Tandoori-Huhn wäre »World Phamous«. Der schmale Eingang, hinter dem sich eine steile betonierte Treppe verbarg, die nach oben führte, war so eng, dass ich mich eben gerade hindurchquetschen konnte, und ich bin nun wirklich nicht sonderlich dick. Offensichtlich hatte Durgas Hauslehrer noch nicht die Freuden entdeckt, die es mit sich brachte, amerikanischen Schülern im Internet Englisch beizubringen und damit ganz schnell Millionen von Dollars zu scheffeln; sonst wäre er wohl längst in eine feudale Villa umgezogen.
Ein junges Mädchen öffnete mir die mit einem Eisengitter versehene Eingangstür und bat mich hinein. Da ich augenscheinlich zu alt war, um eine von Harpreet Singhs Schülerinnen zu sein, fragte sie mich, ob ich gekommen wäre, um ihre Mutter zu besuchen. Ich schüttelte den Kopf und fragte nach ihrem Vater.
Das Mädchen war streng traditionell in einen mit viel Wäschestärke behandelten Hosenanzug gekleidet, ich schätzte sie auf ungefähr zehn Jahre. Ãber ihre Schultern hingen zwei Zöpfe, in die sie blaue Bänder geflochten hatte, so dass sie aussahen wie zwei braune Wasserfälle. Sie sagte, sie würde ihren Vater, der offenbar einige Häuser weiter Unterricht gab, holen gehen.
Ich setzte mich in den winzig kleinen Innenhof, um den herum die meisten älteren Häuser gebaut sind â diese Innenhöfe sind die Lunge für das ganze Gebäude, die für die Durchlüftung der engen dunklen Räume sorgen, die von ihnen abgehen. Ich konnte riechen, dass in der Küche ein Essen zubereitet wurde, aber bis jetzt war niemand auÃer dem Mädchen in Erscheinung getreten. Dann bewegte sich der Vorhang vor dem Kücheneingang ein wenig, und eine Frau kam zum Vorschein. Eine Frau, sage ich, denn sie war wie eine solche gekleidet, ansonsten war sie vollkommen entstellt. Ihre runzelige Haut war mit Narben übersät, und dennoch lag ein wohlwollender, gleichmütiger Blick in den dunklen Augen, die mir wie zwei leuchtende Punkte in ihrem Gesicht vorkamen, aus dem das verfilzte Haar recht nachlässig nach hinten gekämmt war.
Ohne ein Wort zu sagen, reichte sie mir ein Glas Wasser und verschwand wieder in ihrer Küche. Ich spürte, wie mein Atem ganz fiebrig wurde und sich SchweiÃtropfen auf meinen Handflächen bildeten. Was war mit ihr geschehen? Solche Verunstaltungen waren mir nicht fremd, ich war ihnen schon in so manchem Krankenhaus begegnet, in das ich bestellt worden war, um die Aussage des Opfers in einem Streit um eine Mitgift aufzunehmen oder die eines jungen Mädchen, dem ihr früherer Freund Säure ins Gesicht gespritzt hatte. An der Wand entdeckte ich das Bild einer hellhäutigen, noch ziemlich jungen Frau mit einem rot-goldenen Tuch über dem Kopf. War sie das?
Als dann Harpreet Singh den Raum betrat, zuckte ich
Weitere Kostenlose Bücher