Die Ueberlebende
Schwägerin beauftragte Privatdetektivin. Möglicherweise hatte jemand meine E-Mail-Korrespondenz mit ihr gelesen, ich hatte mir von allem Ausdrucke gemacht. In einem der Polizei gehörenden Gästehaus war es kaum möglich, Geheimnisse zu haben. Mir tat nur eines leid â hätte ich nämlich gewusst, was für eine Starrolle mir zuteilwürde, hätte ich mich mit einem Trenchcoat und einer überdimensionalen Sonnenbrille nur zu gerne dieser Rolle entsprechend in Schale geworfen.
Dank dieser jüngst erfolgten Enthüllung der »wahren« Gründe meines Aufenthalts in Jullundur erhielt ich zwei schriftliche Anfragen von örtlichen Sendern, die ein Interview mit mir wollten. Selbst der für gewöhnlich griesgrämige Gästehausvater schien beeindruckt, als er mir die Schreiben überreichte. Ich fragte mich, ob er hinter den Gerüchten steckte, die in den StraÃen von Jullundur die Runde machten. Wie viel mochte man ihm für die Verbreitung dieser völlig an den Haaren herbeigezogenen Geschichte gezahlt haben? Ich meinerseits hatte nämlich wiederum von ihm den Tipp bekommen, dass die Aufseherin im Untersuchungsgefängnis nur zu bereit wäre, mich mit Informationen über Durga zu versorgen, falls ich Interesse daran hätte. Alles nur eine Frage des Preises.
»Vom Sender Aaj Tak , Sir«, erklärte der Hausmeister des Gästehauses. Aus irgendeinem unerfindlichen Grunde redete er mich stets mit »Sir« an. Es schien seiner Beobachtungsgabe völlig entgangen zu sein, dass ich weiblichen Geschlechts war. Kein Wunder, dass er als Polizeiinformant so effektive Arbeit leistete.
Ich sagte ihm, dass ich von niemandem gestört zu werden wünschte, und setzte mich in meinem Zimmer an den Schreibtisch, um noch einmal zu versuchen, meinen »Fall« zu durchblicken. Da ich ja nun wusste, dass Durga sich gut mit dem Computer auskannte, loggte ich mich ins Internet ein und lud mir Informationen über weitere bekannte Kriminalfälle, in die Kinder verstrickt waren, herunter. Das Internet mochte für mich eine Informationsquelle bei meinen Ermittlungen sein â doch für andere, und ganz besonders für Kinder, die ja von Natur aus einen Nachahmungstrieb haben, bietet es eine ganz eigentümliche Faszination. Wie ich bald darauf feststellen durfte, konnte dies zu ziemlich grauenhaften Konsequenzen führen.
Lassen Sie sich eines von mir gesagt sein: Der schnellste Weg zu einer dauerhaft anhaltenden Depression führt über den Versuch, dahinterzukommen, warum Kinder kriminell werden. In dieser Welt liegt nichts mehr im Verborgenen, und jedes noch so unbegreifliche Verbrechen ist nicht nur in Worten, sondern auch in Videoclips, über die man beim Surfen zufällig stolpern kann, dokumentarisiert. Ich vermied die Videos und hielt mich an die schriftlichen Berichte über neuere Fälle, in denen Minderjährige Gewalttaten begangen hatten. Selbst nach jahrelanger Arbeit mit jugendlichen Straftätern machen mich das Verlangen nach Vergeltung und die unkontrollierte Wut, die Kinder entwickeln können, immer noch betroffen. Wenn sie doch bloà rechtzeitig jemanden gefunden hätten, dem oder der sie sich hätten anvertrauen können, oder wen n doch nur jemand sie psychologisch beratend unter seine oder ihre Fittiche genommen hätte ⦠mein ständig wiederholtes StoÃgebet und meine törichtste Hoffnung! Die meisten der brutalen Fälle aus jüngerer Zeit, die ich auf meinen Bildschirm bekam, hatten sich wieder in GroÃbritannien zugetragen.
Brian Blackwell, nach auÃen hin ein hochbegabter Schüler mit erstklassigen Abschlussnoten, hatte seinen Vater und seine Mutter erstochen, weil sie ihm den Umgang mit seiner Freundin verbieten wollten, und besagte Freundin anschlieÃend zu einem Shoppingtrip in die USA eingeladen. Das Bemerkenswerte an diesem Fall war seine spätere Aussage, das Messer sei so mühelos in die Körper seiner Eltern eingedrungen und habe sich auch ebenso leicht wieder herausziehen lassen, dass er sie gar nicht für tot gehalten und deshalb auch keinerlei Reue empfunden hätte, als er seine Eltern blutend und sterbend auf dem FuÃboden liegend zurücklieÃ. Brian war das einzige Kind seiner ihn sehr liebenden Eltern gewesen. Was also war hier schiefgelaufen?
Ich fragte mich, ob wir die Wirkung von Gewaltdarstellungen unterschätzen, weil das Fernsehen und andere Medien
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