Die Ueberlebende
so reichlich Gebrauch davon machen. War die Ãberfütterung mit optischen Eindrücken von blutrünstiger Brutalität verantwortlich für die Mitleidslosigkeit Opfern gegenüber? Ich sah mir das Foto des Jungen an. Erinnerte er mich irgendwie an Durga? Sie und er lebten Tausende von Meilen voneinander entfernt, und doch verband sie eine Wut und eine Verbitterung, die sie angeblich dazu getrieben hatte, ausgerechnet diejenigen Menschen auszulöschen, die ihnen am nächsten standen und unter deren Dach sie lebten.
Natürlich bringen auch Eltern ihre Kinder um; die Zeitungen stürzen sich ganz besonders gerne auf Geschichten von Vätern, die ihre jungen Töchter vergewaltigt und ermordet haben â warum sollten nicht umgekehrt auch die Kinder die Täter sein?
Die Vereinigten Staaten stehen besonders weit oben auf der Liste der Länder mit den meisten Kindesmorden â selbst an weniger als ein Jahr alten Kleinstkindern. Bestürzenderweise ist es hier meist die Mutter, die ihr Kind oder ihr Neugeborenes getötet hat.
Wenn sogar Eltern sich zu derartigen Gräueltaten hinreiÃen lieÃen, wie einfach war es dann für einen Erwachsenen, Kinder zu manipulieren oder für seine Zwecke zu missbrauchen? Und dazu brauchte man nicht einmal nachhaltig auf diese Kinder einzuwirken. Nach meinen Erkenntnissen aus den Gefängnissen von Delhi kam das häufiger vor, wenn ein Kind aus einem gestörten Elternhaus jemanden fand, zu dem es bewundernd aufblicken konnte und in dessen Bann es geriet. Diese Person konnte zum Beispiel ein Lehrer sein oder eine Kultfigur, mit der der Jugendliche sich identifizieren konnte, jedenfalls jemand, den dieser Jugendliche vergöttert und dem es dann leichtfiele, ihn zu allen möglichen Schandtaten bis hin zum Mord zu überreden.
Ein solcher Manipulationsprozess hat durch das Internet ganz neue Dimensionen angenommen. Besagter Mentor braucht sich gar nicht körperlich in der Nähe des betroffenen Jugendlichen aufzuhalten, sondern kann seinen Einfluss auch indirekt auf ihn auszuüben. Es könnte sich um einen Football- oder Kricketstar handeln oder um eine FilmgröÃe oder einen Musiker, jemanden, dem der Jugendliche nie begegnet ist und mit dem er auch sonst in keiner Weise Umgang gehabt hat, der seine Wirkung vielmehr allein durch seine Präsenz in den Medien â sei es auf dem Spielfeld, auf der Leinwand, auf der Bühne oder bei einem Interview â entfaltet.
Gerade in jüngster Zeit haben sich leider die Fälle gehäuft, in denen Minderjährige vermeintliche »Befehle« von einem solchen Vorbild erhielten, die sie dazu verleiteten, sich selbst oder anderen in der irrigen Vorstellung, als jemandes Werkzeug dienen zu müssen, etwas anzutun. Erst neulich habe ich mit einem Jugendlichen gearbeitet, der meinte, die Verhaltensmuster von Mafiosi-Typen in einschlägigen Filmen nachahmen zu müssen. Die »Botschaft«, die der junge Mann aus solchen Filmen im Kopf mit nach Hause nahm, hat ihm einen gebrochenen Unterkiefer, mehrere angeknackste Rippen und eine Bewährungsstrafe eingebracht.
War vielleicht auch Durga solchen negativen Einflüssen ausgesetzt gewesen? Hatte es für sie ein derartiges Vorbild gegeben â entweder in ihrer unmittelbaren Umgebung oder irgendwo weit entfernt? Einen Freund oder vielleicht sogar einen virtuellen Liebhaber, der sie zu bestimmten Handlungen angestiftet haben könnte? Oder waren die Morde gar im Internet geplant worden? Ich war mir sicher, dass die Polizei die Festplatte ihres Computers ausgewertet hatte, machte mir aber dennoch eine Notiz, dass ich Amarjit danach fragen wollte.
Bisher war ich niemandem begegnet, der Durga nahegestanden hatte. Ich konnte mir keinerlei konkrete Vorstellung von ihrem Verhältnis zu ihrer Schwester und zu ihren Brüdern oder auch zu ihren Eltern machen. Ganz offensichtlich war ich nun an einem Punkt angekommen, an dem ich sie â oder jemanden aus ihrem engeren Umfeld â nach ihrer Schwester, nach ihren Eltern und nach diesem Adoptivsohn namens Rahul fragen musste. Das Mordhaus stellte für mich nach wie vor ein Rätsel dar, und nun erwiesen sich seine Bewohner als nicht minder nebulös. Sooft ich glaubte, bei meinen Bemühungen, Durga zu durchschauen, einen Schritt weitergekommen zu sein, schien sie mir immer wieder zu entgleiten.
Ich hatte das Gefühl, in einem Raum voller Spiegel zu stehen, in dem ich
Weitere Kostenlose Bücher