Die Ueberlebende
ja, dass Sie nur versuchen, ihr zu helfen, aber nun, da wir wissen, dass ihre Schwester eine entsprechende Vorgeschichte hat ⦠könnte es da nicht sein, dass sie vielleicht auch ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten ist?«
Ich lehnte mich abrupt in meinem Stuhl zurück.
»Sie ist eine vollkommen normale Jugendliche. Und lassen Sie sich eines gesagt sein: Das meiste, was da über Sharda geschrieben steht, ist erstunken und erlogen. Es hat einen Familienkrach gegeben, weil sie sich in jemanden verliebt hat, und deswegen haben sie dafür gesorgt, dass sie unter Verschluss kommt. Und das ist ja wohl nichts Ungewöhnliches, wie Sie bestimmt wissen dürften.«
»Regen Sie sich doch nicht gleich so auf, Simran. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber es ist doch immerhin möglich, dass in dieser Akte die Wahrheit steht und dass Shardas Schwester tatsächlich des Mordes fähig ist. Das mag sich für Sie sehr krude anhören, aber in ihren lichten Momenten können die Menschen, die wir als geistesgestört betrachten, uns auch ganz schön manipulieren. Sie brauchen nur auf die richtigen Knöpfe zu drücken, und schon fühlen wir uns schuldig und lassen sie mit allen möglichen Missetaten davonkommen. Wissen Sie, es ist ein sehr schmaler Grat. Man muss versuchen, objektiv zu bleiben. Ich weià ja, dass Durga nur ein Kind von vierzehn Jahren ist, aber ich habe Menschen erlebt, die, wenn man sie nur genug provoziert, geradezu übermenschliche Kräfte entwickeln â psychisch wie physisch. Bis zum Mord ist es da nur ein kleiner Schritt.«
Seine Stimme klang mir noch in den Ohren, als ich das Büro verlieÃ. In meiner Verwirrung konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Prakashs Sekretärin und Vorzimmerdame eine Spur zu wissend dreinblickte, als ich an ihr vorbeiging. Wieso bedachte sie mich mit so einem sonderbaren Lächeln? Was wusste sie über den Fall? Doch bevor ich irgendetwas zu ihr sagen konnte, war sie schon in Prakashs Büro verschwunden.
Mir standen SchweiÃperlen auf der Stirn. Hatte ich soeben eine komplette Idiotin aus mir gemacht? Lieà ich mich so leicht manipulieren?
Gerade in diesem Augenblick kam eine Gruppe weiblicher Anstaltsinsassinnen an mir vorbei. Sie waren alle sehr schweigsam und gingen vornübergebeugt, als trügen sie eine unsichtbare Last auf ihren Rücken. Einige von ihnen waren dürr und ausgezehrt wie das Mädchen auf dem Foto. Ich wusste, dass sie nur das Allernötigste an Nahrung erhielten und dass man ihnen im Winter ihre Decken wegnahm. Und es war mir auch bekannt, dass die Patientinnen oft mit Läusen im Haar und Würmern â ja, Würmern â in den Augenbrauen hier eintrafen und dass das Personal sich weigerte, sie zu waschen. Ich wusste, dass man ihnen hier ihre Identität und den letzten Fetzen ihrer Ehre nahm. Aber wie sollte ich in diesem Augenblick meine Stimme erheben? Hatte ich gerade den gröÃten Fehler meines Lebens begangen? Ich kam mir wirklich vor wie eine Vollidiotin.
Ich trat hinaus in den Sonnenschein. Es war ein glühend heiÃer Tag. Selbst die Vögel hockten still und dürstend im Schatten. Zumindest hatte ich die Bestätigung erhalten, dass Sharda tatsächlich in dieser Anstalt gewesen war, und auch ein wenig mehr über ihre Familie in Erfahrung gebracht. Ich holte einmal tief Luft und marschierte dann zurück zu der Sekretärin, um sie um eine Kopie des Fotos von Sharda zu bitten. Ich durfte mir meine Verstimmung nicht anmerken lassen, denn meine oberste Priorität war es schlieÃlich, Durga zu helfen. All meine Bemühungen wären für die Katz, wenn sie genau wie ihre Schwester in diesem Irrenhaus landete. Was war es, was alle Welt so dringend von mir erwartete? Dass ich empfahl, sie hier einzusperren?
Als ich wieder im Zug nach Jullundur saÃ, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. War Binny eigentlich so unschuldig, wie sie sich darstellte? Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen, dass sie den gröÃten Nutzen daraus zog, wenn man Durga wegsperrte â entweder im Gefängnis oder in dieser Anstalt? Konnte Binny überhaupt etwas Besseres passieren? Winkte ihr nicht ein beträchtliches Erbe, wenn sie ihre Schwägerin hinter Gitter brachte? Es kam mir plötzlich höchst verdächtig, ja geradezu unheimlich, vor, dass sie so unmittelbar vor der Mordnacht verschwunden und deswegen mit
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