Die Ueberlebende
Mutter aufschreien hörte. Es war das erste Mal, dass mein Vater sie in Gegenwart eines Fremden geschlagen hatte, falls man Ramnath noch so bezeichnen konnte, denn inzwischen war er ja mehr so etwas wie ein Freund der Familie. Er kannte eines unserer schlimmsten Geheimnisse, und er würde auch über Shardas Schicksal entscheiden.
Aber das dauerte eine Weile, und es brauchte viele Unterredungen und lange Diskussionen um Geld, weil natürlich alle Lösungen, die in Frage kamen, Ausgaben mit sich brachten. Helfer mussten bezahlt, Ãrzte mussten geschmiert werden, und dann blieb da noch die wichtigste Frage â wohin sollte man Didi bringen, während all das stattfand? Da haben sie dann entschieden, das alles Ramnath zu überlassen. Er würde die ganze Geschichte regeln.
Und als meine Mutter Einwände erhob â nein, nein, nein, das nicht, niemals, nicht das, nicht mit meiner Tochter! â, hat mein Vater sie in aller Ãffentlichkeit ins Gesicht geschlagen. Da hat sie dann verstanden.
Mir wurde natürlich nichts erzählt. Weil Didi in einem anderen Zimmer eingeschlossen war, musste ich selbst sehen, wie ich etwas erfuhr. Was hatten sie mit ihr vor?
Aber das habe ich nicht erfahren, ich habe nichts gewusst, bis sie sie fortbrachten. Und weil Jitu bei ihr war, hätte ich nie geglaubt, dass sie ihr irgendwas antun würden.
Ich hätte mich nicht schlimmer irren können.
Als also Ramnath heute zu mir kam, wusste ich, was geschehen würde. Und ich war darauf vorbereitet. Ich glaube, dass ich nicht einmal Angst hatte.
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»Sie haben sechs Anrufe von Gurmitsinghji, Saar«, vermeldete der mürrische Hausmeister â mein lockerer, sinnenfroher Lebenswandel ging ganz offensichtlich über sein Vorstellungsvermögen â, als ich, noch ganz verwirrt von den neuen Umständen und voller Sorge um Durga, wieder im Gästehaus ankam.
Ich sollte mein Handy wieder einschalten und den armen Kerl nicht länger auf die Folter spannen, dachte ich. All diese merkwürdigen Anwandlungen waren Begleiterscheinungen meiner Bemühungen um einen bescheidenen Lebensstil â mal abgesehen von meinem Trinken, das Einzige, was ich im Ãbermaà tat.
Meine leicht hirnverbrannte Vorstellung bestand darin, ein möglichst unabhängiges Leben zu führen und mich moderner Technologie nur dort zu bedienen, wo es unabdingbar war. Und obwohl ich für meine Arbeit kein Gehalt â und auch kein »Schutzgeld«, wie ich es Amarjit gegenüber ausgedrückt hatte â, bezog, da ich alles ehrenamtlich tat, verspürte ich ein enorm schlechtes Gewissen dabei, wenn ich etwas von dem Geld ausgab, das mein Vater mir hinterlassen und das er sein ganzes Leben lang mit Fleià und Beharrlichkeit zusammengetragen hatte. Ich gestattete mir lediglich das absolute Minimum, um eben über die Runden zu kommen.
Mein Vater war ein Mann gewesen, den sein Ehrgeiz bis ans Limit getrieben hatte. Die fünfundzwanzig Jahre, die er damit verbracht hatte, in diversen kleinen Städten ein Netzwerk aus Automobilzulieferbetrieben aufzubauen, und während derer er permanent Benzindämpfen und StraÃenstaub ausgesetzt gewesen war, hatten dafür gesorgt, dass seine Arterien gründlich verstopft waren. Sein Traum war es gewesen, uns einmal den Louvre in Paris zu zeigen und Schloss Neuschwanstein, doch dazu sollte es nie kommen. In seiner Brieftasche trug er stets ein Foto von dem Haus, das sein Vater in Lahore besessen hatte, einer doppelstöckigen, einem Palast nachempfundenen Villa, die während der Unruhen nach der Teilung Indiens niedergebrannt worden war. Der Kopf meines GroÃvaters war damals sauber von seinem Oberkörper abgetrennt worden und vor den FüÃen meiner GroÃmutter gelandet, als die beiden versucht hatten, mit ihrer Kinderschar durch die Hintertür ihres Heims mit den vierundzwanzig Balkonen zu entkommen.
Das war 1947, und von der achtköpfigen Familie meiner GroÃeltern hat einzig und allein mein Vater überlebt, weil er so schlau gewesen war, angesichts all des Blutes in Ohnmacht zu fallen, und von dem brandschatzenden Mob für tot gehalten wurde.
Mein Vater hat den Lebensstil, den er einmal gewohnt gewesen war, nie vergessen; und meine Mutter hat das Ihrige dazu beigetragen, dass das definitiv nie der Fall sein würde. Sie wusste, dass sie eigentlich mit dem Sohn eines Millionärs hätte verheiratet sein
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