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Die Überlebenden der Kerry Dancer

Die Überlebenden der Kerry Dancer

Titel: Die Überlebenden der Kerry Dancer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alistair MacLean
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heftig, daß sich ihm der Magen umdrehte. Um ihn herum erwachten die anderen mühsam aus ihrem schweren Schlaf und richteten sich noch halb betäubt auf. Bei wem es zu langsam ging, da er allzu krank oder zu schlimm verwundet war, der wurde grausam hochgerissen, ohne Rücksicht auf sein Stöhnen, seinen Schmerzensschrei, und zur Tür getrieben. Gudrun Drachmann gehörte auch zu denen, die so übel behandelt wurden; sie hatte sich über den noch schlafenden Peter gebeugt, um ihn in eine Decke zu wickeln und auf den Arm zu nehmen, und Nicolson sah, wie einer der Posten beide mit solcher Gewalt hochriß, daß er dem Mädchen dabei fast den Arm ausgerissen haben mußte. Sie schrie vor Schmerz laut auf, biß aber im nächsten Augenblick schweigend die Lippen zusammen. Nicolson überraschte sich dabei, wie er ungeachtet seiner Schmerzen und seiner Verzweiflung sie ansehen und bewundern mußte. Er sah sie an, dachte daran, mit welcher Geduld, welchem Mut und welcher hingebenden Selbstlosigkeit sie sich all diese langen Tage und endlosen Nächte hindurch um das Kind bekümmert hatte, und plötzlich erfaßte ihn ein geradezu überwältigendes Mitleid mit ihr, wurde ihm klar, daß er bereit war, alles zu tun, was in seiner Macht stand, um diesen Mädchen vor weiteren Mißhandlungen und Erniedrigungen zu bewahren. Er mußte sich verwundert und überrascht eingestehen, daß er ein derartiges Gefühl, soweit er sich erinnern konnte, bisher nur für Caroline gehabt hatte. Er kannte dieses Mädchen erst seit zehn Tagen, und doch kannte er sie vermutlich besser, als er irgendeinen anderen Menschen im Verlauf eines langen Lebens hätte kennenlernen können. Die Schwere dessen, was sie in diesen zehn Tagen durchgemacht hatten, die hinter ihnen lagen, die Intensität des Erlebens und die Härte der Strapazen waren wie ein Blitzlicht gewesen, wie eine scharfe Lupe: sie hatten mit brutaler Deutlichkeit Nachteile und Vorzüge, Tugenden und Untugenden enthüllt, die sonst möglicherweise jahrelang unerkannt und unentdeckt geblieben wären. Not und Gefahr aber hatten die Wirkung eines Katalysators gehabt, sie hatten die besten und die schlechtesten Seiten eines jeden eindeutig zum Vorschein kommen lassen, und ebenso wie McKinnon war auch Gudrun Drachmann diesem feurigen Ofen der härtesten Erprobung strahlend und ohne jeden Makel entstiegen. Es war seltsam, es war unglaublich – doch für einen Augenblick vergaß Nicolson, wo er sich befand. Er dachte nicht mehr an die bittere Vergangenheit und die hoffnungslose Zukunft, sondern richtete von neuem seinen Blick auf das Mädchen und begriff zum erstenmal, daß er sich etwas vormachte, und zwar bewußt. Was er für dieses Mädchen mit dem verhaltenen Lächeln und der Narbe auf der Wange empfand, für dieses Mädchen mit der Haut, die aussah wie eine Rose in der Dämmerung, mit diesen Augen, deren Blau an das Meer des Nordens denken ließ, das war nicht Mitleid, sondern einfach Liebe; und falls es Mitleid gewesen sein sollte, so würde es jedenfalls nie wieder Mitleid sein. Nimmermehr. Nicolson schüttelte langsam den Kopf und lächelte vor sich hin, dann stöhnte er leise vor Schmerz, als ihm Yamata mit dem Ende des Gewehrkolbens zwischen die Schulterblätter stieß, daß er schwankend zur Tür stolperte.
    Draußen war es fast völlig dunkel, doch für Nicolson hell genug, um zu erkennen, wohin die Soldaten sie brachten – zu dem hell erleuchteten Versammlungsplatz der Dorfältesten, dem großen Haus der Gemeindeversammlung, in dem sie am Abend bewirtet worden waren, an der anderen Seite des Kampongs gelegen. Es war für Nicolson auch hell genug, um noch etwas anderes zu erkennen – den undeutlichen Umriß von Telak, der unbeweglich in der Dunkelheit stand. Ohne an den Offizier zu denken, der hinter ihm ging, und ohne an den nächsten bösartigen Stoß mit dem Kolben zu denken, den er mit Sicherheit zu erwarten hatte, blieb Nicolson einen knappen halben Meter von Telak entfernt stehen. Telak stand so unbeweglich wie eine steinerne Statue. Er rührte kein Glied, machte keine Geste, stand einfach still und unbeweglich in der Dunkelheit, wie ein Mann, der tief in Gedanken versunken ist.
    »Wieviel hat man Ihnen denn dafür bezahlt, Telak?« Nicolsons Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
    Telak antwortete sekundenlang nicht. Nicolson machte sich gefaßt auf den nächsten Stoß in den Rücken, doch der Stoß blieb aus. Dann begann Telak zu sprechen, so leise und wie aus großer Ferne, daß

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