Die Übermacht - 9
wollen?«, fragte er und mühte sich dabei nach Kräften, skeptisch zu klingen. Er konnte Gray Harbor ja kaum erzählen, dass er Coris bei der Abfassung der Nachricht, um die es ging, geradewegs über die Schulter geblickt hatte – genau genommen hatte natürlich eine von Owls Fernsonden Coris über die Schulter geblickt.
»Meines Erachtens denkt er sogar sehr ernsthaft darüber nach, Euer Majestät«, unterstrich Gray Harbor. »Ob er zu dem Schluss kommen wird, die Übereinkunft dann auch Wirklichkeit werden zu lassen, ist etwas anderes.«
»Sie meinen, eine Übereinkunft wäre für ihn eine Art Notanker?«, fragte Nahrmahn nach.
»Etwas in der Art, Euer Hoheit.« Gray Harbor nickte. »Was auch immer man sonst über ihn sagen kann, ein Narr war Coris noch nie. Sie, Majestät, hat er allerdings wie viele andere auch immens unterschätzt. Nun, vielleicht wird Coris sich nicht festlegen und seine Fehleinschätzung in einem Schreiben offen ansprechen. Aber es ist doch offensichtlich, dass jemand, der derart scharfsinnig und wohlinformiert ist wie er, erkennen muss, dass es keinen Sinn ergibt, in Cayleb den Auftraggeber für Hektors und des Kronprinzen Ermordung zu sehen.«
»Derart weit würde ich nicht gehen wollen, Mylord«, widersprach Nahrmahn nachdenklich. »Dass es keinen Sinn ergibt, meine ich. Es wäre ungewohnt töricht, wenn der Kaiser die beiden genau zu diesem Zeitpunkt aus dem Weg geräumt hätte, das gebe ich gern zu. Andererseits dürfte es sogar eine ganze Menge Regenten geben, die keine einzige Träne vergossen hätten, wenn ein Feind wie Hektor einem Unfall zum Opfer gefallen wäre. Jedenfalls nicht, nachdem dieser Feind Lehnstreue geschworen hätte ... und bevor er dazu gekommen wäre, seinen Eid wieder zu brechen.«
»Ja, das stimmt wohl.« Wieder nickte Gray Harbor. »Dennoch stimmt, dass das Attentat politische Idiotie gewesen wäre. Und nicht nur das: Coris muss bewusst sein, wie ... praktisch die ›Vierer-Gruppe‹ Hektors Ermordung finden muss. Angenommen, der Graf ist ernstlich um das Wohlergehen des jungen Daivyn besorgt oder einfach nur darauf bedacht, auch in der Zukunft maßgeblich an Daivyns späterem Hofe tätig sein zu können. Dann muss er sich jetzt Sorgen machen, jemand wie Clyntahn konnte beschließen, Daivyns Tod könne ebenso nützlich sein wie zuvor der seines Vaters. Was das betrifft, bin ich tatsächlich geneigt anzunehmen, dass Coris nach Möglichkeiten sucht, Delferahk wieder zu verlassen, sollte das erforderlich werden.«
»Aber Sie meinen nicht, dass er sich nur an uns wenden wird, wenn er zu dem Schluss kommt, es sei es absolut unumgänglich?«
»Doch, das meine ich. Seien wir doch ehrlich: Warum sollte er sich an uns wenden? Sonderlich beliebt gemacht haben wir uns bei ihm nicht. Momentan ist es durchaus sinnvoll, wenn er Daivyn von uns fernhält. So erweist er sich als treu gegenüber Mutter Kirche ebenso wie Daivyn und Irys gegenüber. Coris hat nie so überstürzt gehandelt wie Hektor, und ich wüsste nicht, warum sich das mit einem Mal ändern sollte. Er hat nun einmal in Talkyra eine deutlich bessere Verhandlungsposition, als das in Tellesberg der Fall wäre. Warum sollte er das aufgeben?«
»Wie sollen wir Ihres Erachtens also reagieren?«
»Ich habe darüber schon mit Bynzhamyn und auch mit Ahlvyno gesprochen«, erwiderte Gray Harbor. Cayleb nickte. Bynzhamyn Raice, Leiter der Spionageabteilung im Alten Königreich Charis, und Ahlvyno Pawalsyn, Charis’ Finanzminister, gehörten zu Gray Harbors ältesten Freunden und genossen sein uneingeschränktes Vertrauen.
»Beide waren meiner Meinung: Diese Gelegenheit dürfen wir uns nicht entgehen lassen!«, fuhr der Graf fort. »Zwar ist es noch nicht abzusehen, aber es besteht durchaus die Möglichkeit, dass Coris letztendlich bei uns um Asyl ersucht. Politisch wäre es von unschätzbarem Vorteil, bekämen wir Irys und Daivyn in die Hände – bildlich gesprochen natürlich. Ob wir beide zu einer echten, bewusst eingegangen Kooperation bewegen können, ist selbstverständlich wieder eine ganz andere Frage. Aber Irys ist der festen Überzeugung, Ihr hättet ihren Vater und Bruder töten lassen. Und Irys hat großen Einfluss auf ihren kleinen Bruder. Unsere Erfolgschancen stehen bestenfalls fünfzig-fünfzig. Andererseits, ob Irys uns nun ausstehen kann oder nicht: Nach allen Berichten, die uns über sie vorliegen, ist sie klug. Vielleicht sogar klug genug, um zu erkennen, dass ihr Bruder keine andere Wahl hat,
Weitere Kostenlose Bücher