Die Übermacht - 9
schon von ihm eingenommen, bevor er hier überhaupt eingetroffen ist, und bislang habe ich noch nichts gesehen, was meine Meinung ändern würde.«
Pater Ahbel war der Abt des Klosters Sankt Zherneau. Noch vor kurzem hatte Byrkyt diesen Titel geführt. Doch allmählich raubte das Alter Byrkyt die Kraft. Ja, er verfiel sichtlich, auch wenn er sich dessen weniger bewusst zu sein schien als jeder andere – zumindest machte er sich deswegen deutlich weniger Sorgen. Wegen seiner angeschlagenen Gesundheit hatte er das Amt des Abtes abgeben müssen. Das Amt des Klosterbibliothekars aber bekleidete er immer noch – und das war möglicherweise eine noch deutlich wichtigere, verantwortungsvollere Aufgabe angesichts der ... Eigentümlichkeiten des Sankt-Zherneau-Ordens.
»Ich halte mittlerweile auch große Stücke auf ihn«, sagte Bruder Bahrtalam Fauyair. Der Alomonarius, der Almosenbruder, der sich um die Ärmsten in der Umgebung des Klosters Sankt Zherneau kümmerte, war ein braunhaariger Mann mit ebenso braunen Augen, breiten Schultern und kräftigen Muskeln. Sein geschundenes Gesicht, das an einen Berufsboxer erinnerte, verriet nur allzu deutlich, dass er seine Jugend an den Docks als Eintreiber eines Kredithais verbracht hatte, bevor er in den Dienst Gottes berufen wurde. Nun wirkte sein Gesicht besorgt, und er schüttelte langsam und bedächtig den Kopf.
»Ja, ich halte sogar sehr große Stücke auf ihn«, fuhr er fort, »aber ich kann nicht vergessen, dass er zur Inquisition gehört. Alles, was ich von ihm erlebt habe, seit er hier ist, schreit geradezu danach, dass er völlig anders ist als Clyntahn oder Rayno. Aber er ist immer noch ein Inquisitor – als Schuelerit erzogen und ausgebildet. Wir haben noch nie einen Schueleriten in den Inneren Kreis aufgenommen. Dafür gab es auch einen guten Grund, und ich bringe es einfach nicht fertig, diese Regel außer Acht zu lassen, solange das nicht absolut unumgänglich ist.«
»Da hat Bahrtalam nicht Unrecht«, merkte Bruder Symyn Shaumahn an. Als Hospitalarius und Hospitarius des Klosters, zu dessen Aufgaben es gehörte, sich um die Bedürfnisse der Obdachlosen ebenso zu kümmern wie um das Wohlergehen aller Gäste des Klosters, arbeitete er Tag für Tag eng mit Fauyair zusammen. Sonderlich ähnlich sahen die beiden einander nicht. Shaumahn war ein grauhaariger, schlanker Mann, mindestens fünfzehn oder zwanzig Jahre älter als Fauyair, mit auffallend schmalem Gesicht und dem Erscheinungsbild eines Gelehrten.
»Nein, wirklich nicht«, bekräftigte er. »Ach, natürlich hat es nie eine feste, unverbrüchliche Regel gegeben, was Schueleriten betrifft. Aber ich meine, wir waren uns, was das angeht, alle einig!« Er verzog das Gesicht, und Byrkyt lachte leise in sich hinein. »Trotzdem, Bahrtalam ...«, Shaumahn wandte sich von dem Fenster ab und blickte nun geradewegs Fauyair an. »Wir haben auch schon andere Regeln außer Acht gelassen, einschließlich einiger, die wir im Laufe der Jahre immer als fest und unverbrüchlich erachtet haben. Keine dieser Regeln haben wir ohne guten Grund gebrochen, aber gebrochen haben wir sie trotzdem. Ich gebe wohl zu, dass mich allein schon die Vorstellung, einen Inquisitor auch nur in die Nähe des Tagebuchs zu lassen, unbeschreiblich nervös macht. Aber ich bin wirklich geneigt, Zhon und Ahbel hier beizupflichten.«
»Wirklich?« Erstaunt blickte Fauyair ihn an, und Shaumahn zuckte mit den Schultern.
»Nicht, solange sie mir nicht einen sehr, sehr guten Grund dafür nennen, das versichere ich dir! Aber ich denke, Maikel hat höchstwahrscheinlich Recht, was diesen jungen Mann angeht. Außerdem möchte ich uns alle noch einmal daran erinnern, dass Maikels Urteilsvermögen, wenn es um Menschen geht, gemeinhin geradezu erschreckend genau zutrifft. Alles, was ich bislang von Pater Paityr gesehen habe, passt ganz genau zu dem, was Maikel uns über ihn erzählt hat. Und Maikel und die anderen haben voll und ganz Recht, welche gewaltigen Vorteile es mit sich brächte, gerade diesen Inquisitor die Wahrheit wissen zu lassen!«
»Aber genau diese Vorteile würden sich zu einem ebenso gewaltigen Desaster auswachsen, falls sich herausstellen sollte, dass Maikel in diesem Falle ausnahmsweise doch nicht Recht hätte«, gab Schwester Ahmai Bailahnd zu bedenken.
Falls sich Schwester Ahmai – genauer gesagt: Mutter Äbtissin Ahmai – von der Tatsache stören ließ, die einzige Frau in diesem Raum zu sein, so ließ sie es sich zumindest nicht
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