Die Übermacht - 9
anmerken. Außerdem hatte sie das Kloster Sankt Zherneau im Laufe der Jahre schon unzählige Male besucht. Die Abtei Sankt Evehlain war eine von Nonnen gegründete Schwesterabtei Sankt Zherneaus; die Gründung aber lag beinahe zweihundert Jahre nach der des Mönchsklosters. Schwester Ahmai war zierlich und schlank, mit ebenso zierlichen, schlanken Fingern, einem ovalen Gesicht, braunem Haar und einer auffallend ausgeprägten Nase. Sie humpelte ein wenig, weil sie sich in jüngeren Jahren einen komplizierten Beinbruch zugezogen hatte. Bei feuchtem Wetter (wie heute) war das Humpeln ausgeprägter. Dass der Blick der braunen Augen, der durchs Fenster hinaus in den Garten ging, düster war, rührte aber von mehr als nur den Schmerzen im Bein.
»Glaub mir, Ahmai, dessen sind wir uns alle geradezu schmerzhaft bewusst«, erwiderte Bruder Tairaince Bairzhair mit einem schiefen Lächeln. Er war der Zellerar der Klosters, also sozusagen der Buchhalter Sankt Zherneaus. Sein braunes Haar war von den ersten weißen Strähnen durchzogen, und mit einem Finger fuhr er sich über die Narbe auf seiner Stirn. Auch er beobachtete aufmerksam, wie der junge Priester im Klostergarten arbeitete. »Dass er im Gegensatz zu so vielen anderen Intendanten noch nie eine Entscheidung einfach aus einer Laune heraus gefällt hat, dass er immer ehrlich und gerecht war und Mitgefühl gezeigt hat, das alles sollte eigentlich schon ausreichen, um in ihm etwas völlig anderes zu sehen.« Bairzhair stieß ein Schnauben aus. »Schließlich sind wir derartiges Verhalten bei Schueleriten ja nun wirklich nicht gewohnt, und schon gar nicht bei einem Intendanten!
Aber dann ist da noch etwas anderes: Noch nie hat jemand diesen Schueleriten – Inquisitor hin oder her – bezichtigt, jemals ein harsches Wort gesprochen zu haben. Wir alle, ein ganzes Königreich, haben gesehen, wie sein Glaube ihm dabei geholfen hat, Trauer und Ungewissheit zu verkraften. Kein einziges Wort hat er über den Verbleib seiner ganzen Familie gehört, nachdem sein Vater tot war – doch er blieb fest im Glauben. Das sollten wir nicht vergessen. Auch nicht, dass die Familie Wylsynn schon immer im Ruf großer Frömmigkeit stand. Er ist der Sohn und Neffe zweier Vikare, die dieser Mistkerl Clyntahn hat umbringen lassen. Nimmt man das alles zusammen, dann ergibt sich daraus, dass er uns entsetzlich schaden könnte, wenn wir ihm die Wahrheit erzählen und er uns nicht glaubt.«
»Es könnte sogar noch schlimmer kommen, Tairaince«, merkte Fauyair an. »Was, wenn er uns die Wahrheit sehr wohl glaubt ... und dies sein Vertrauen in Gott endgültig zerstört?«
Schweigend blickten alle einander an. Schließlich nickte Byrkyt.
»Was das betrifft, hatten wir bislang wirklich Glück«, sagte er mit belegter Stimme. »Aber früher oder später muss uns dieses Glück auch einmal ausgehen. Das wissen wir doch alle. Deswegen haben wir uns ja auch bei so vielen möglichen Kandidaten dagegen ausgesprochen, obwohl wir alle wissen, dass sie gute, gottesfürchtige Menschen sind. Und ob wir nun gern darüber sprechen oder nicht: Wir wissen auch, was Cayleb und Sharleyan – und Merlin – werden tun müssen, sollte sich herausstellen, dass wir jemanden eingeweiht haben, bei dem es ein Fehler war.«
Er lehnte sich gegen die Wand und blickte alle ruhig an.
»Ich bin ein alter Mann. Lange werde ich mich an diesen Entscheidungen nicht mehr beteiligen können. Ich könnte mir vorstellen, ich werde deutlich früher als ihr alle vor Gott Rechenschaft ablegen müssen, welche Entscheidungen ich mitgetragen habe. Aber keiner von uns kann so tun, als wisse er oder sie nicht, wie wichtig das alles ist. Und Cayleb und Sharleyan können sich keine Skrupel leisten, falls sich herausstellt, dass wir jemanden eingeweiht haben, der dieses Wissen gegen uns verwenden will. Seien wir doch ehrlich: Schlichte Empörung – die Art Empörung, die selbst die besten Menschen angesichts dieser Enthüllung verspüren werden – kann durchaus ausreichen, um einen Menschen dazu zu bewegen, die Wahrheit vom höchsten Berg der Welt aus verkünden zu wollen. Natürlich würde das vermutlich dafür sorgen, dass er schon bald den Tod findet. Aber wie sehr wird jemand, der derart empfindet, darüber wohl nachdenken? So wie ich das sehe, lautet die letztendliche Frage hier nicht, ob Pater Paityr ein mitfühlender, liebevoller Diener Gottes ist, sondern ob wir das Risiko eingehen wollen, möglicherweise für den Tod eines mitfühlenden,
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