Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
neunundvierzig Tage vergangen seitdem, und ich dachte, es würde allmählich Zeit.«
»Das weiß ich ja... es ist trotzdem zu früh.«
»Vielleicht. Aber jetzt fühle ich mich endlich frei.«
Sie hatte das zwar anders gemeint – zu früh für die Augen der Öffentlichkeit, zumal noch Yayois auffällige Verwandlung hinzukam -, aber Masako sah ein, dass es zwecklos war, ihr das jetzt erklären zu wollen. Sie selbst hatte sich schließlich auch verändert, Yayoi ging es sicher ähnlich. »Verstehe. Danke auch.«
»Ja, dann.« Yayoi hob die Hand zum Gruß, lief flink die Treppe hinunter und verschwand in der feuchtwarmen Dunkelheit.
Nachdem sie fort war, passierte Masako den Hygiene-Check, mied den Aufenthaltsraum und ging stattdessen als Erstes zur Toilette. In der Kabine öffnete sie den Briefumschlag und prüfte den Inhalt. Wie versprochen befanden sich zwei von Banderolen gehaltene
Bündel mit je hundert Zehntausend-Yen-Scheinen darin. Masako verstaute sie tief unten in ihrer Handtasche. Hier in der Fabrik gab es außer den Toilettenkabinen keinen privaten Ort.
Mit Unschuldsmiene betrat sie den Aufenthaltsraum und entdeckte Yoshië und Kuniko, wie sie auf den Tatami einträchtig beieinander saßen und Tee tranken. Sie waren beide schon umgezogen und konnten ihren Zustand verblüffter, freudiger Erregung kaum verbergen.
»Hast du Yama-chan noch getroffen?«, fragte Yoshië, noch während sie Masako zu sich heranwinkte.
»Ja, draußen kurz.«
»Hast du auch was gekriegt?«, flüsterte Yoshië.
Masako stellte sich dumm: »Meinst du Geld?«
»Ja. Sie hat jedem von uns fünfhunderttausend gegeben.«
Kuniko nickte nur mit gesenktem Blick zu Yoshiës Worten. Ihre Wangen glühten vor Glück. Aber bald wird auch dieses Geld durch deine fetten Finger geronnen sein, dachte Masako. Und dann würde man höllisch auf sie aufpassen müssen, denn inzwischen hatte sie Blut geleckt und war auf den Geschmack von mühelos verdientem Geld gekommen.
»Ob Yama-chan sich da nicht übernommen hat?«
»Das hab ich ja auch gesagt! Lass dir Zeit, hab ich zu ihr gesagt, aber sie wollte partout nicht hören und es uns unbedingt schon jetzt geben!«, verkündete Yoshië, aber ihre Stimme überschlug sich fast vor Freude über die unerwartete Einnahme.
»Na, dann ist doch gut!«
»Aber ist es auch wirklich in Ordnung, dass du nichts bekommst?«, fragte Yoshië besorgt, doch Masako schüttelte nur immer wieder lachend den Kopf. Sie hatte den Löwenanteil bekommen, und sie verbarg das vor den anderen, in dem Bewusstsein, es zur Flucht oder als Grundkapital für eine neue, eigene Existenz zu verwenden. Vielleicht würde sie sogar etwas davon ausgeben müssen, um den beiden da zu helfen. Sie hatte jedenfalls keinerlei Gewissensbisse zu lügen.
»Ich brauche nichts, wirklich nicht.«
»Ja dann, entschuldige, Masako-san«, sagte Kuniko, wobei sie ihre Handtasche mit dem Geld fest an sich drückte, als hätte sie Angst, man wolle sie ihr entreißen. Masako warf ihr einen flüchtigen
Blick zu und bemühte sich, die innere Wut im Zaum zu halten.
»Damit kannst du ja jetzt endlich deine Schulden zurückzahlen, was?« Diese kleine Gehässigkeit konnte sie sich nicht verkneifen, doch Kuniko antwortete nicht, sondern lachte nur unbestimmt. Während sich Masako mit geübten Griffen die Haare mit einer Spange zusammenband, fragte sie weiter: »Und was macht ihr jetzt während der Schicht mit dem Geld?«
»Da sagst du was, das ist unsere Sorge! Wir haben schon überlegt, vielleicht jemanden mit einem Schließfach zu bitten, es so lange für uns aufzubewahren.« Yoshië schaute sich im Raum um, wie um einen solchen Jemand ausfindig zu machen. Doch ein Schließfach bekamen hier nur diejenigen, die schon länger als drei Jahre in der Fabrik beschäftigt waren und deshalb wie Festangestellte behandelt wurden – man konnte sie an den Fingern abzählen -, und die brasilianischen Arbeiter, da sie ein so starkes Bedürfnis nach individueller Abgrenzung hatten.
»Soll ich nicht Herrn Miyamori fragen?«, überlegte Yoshië, ihr immer noch den Rücken zugewandt. Masako entdeckte Kazuo in der Ecke des Aufenthaltsraums, in der sich gewöhnlich die brasilianischen Arbeiter versammelten. Mit seinen traurigen Augen saß er da, die Beine lang ausgestreckt, und rauchte. Peinlich vermied er es, in Masakos Richtung zu schauen.
»Nimm doch Komada«, schlug Masako den fest angestellten Hygiene-Kontrolleur vor, besann sich aber gleich wieder, denn ihm würde es
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